Vom Bauernhof aus kann Paula Roser die Schule sehen. Knapp 500 Meter den Hügel hinab, da steht sie. Eine mittelgroße Einrichtung, wie es viele im ländlichen Raum gibt: Grund- und Werkrealschule zusammen, rund 30 Lehrkräfte für 300 Kinder, ein heller Neubau, umgeben von Weiden und Obstbäumen.
Wenn Rosers Tochter 2027 eingeschult wird, könnte sie morgens in zwei Minuten über die Wiese hinüberlaufen. Klingt nach einem Traum vieler Eltern.
Landwirtin wird zur Aktivistin
Roser, 32, ist Landwirtin, sie macht Bio-Käse. In vierter Generation bewirtschaften ihr Mann und sie den Schwarzwaldhof, auf dem sie mit Großeltern, zwei Kindern und vielen Tieren leben. Den Käse verkaufen sie im Hofladen und auf Wochenmärkten.
Nebenbei ist Roser nun auch Aktivistin. Denn ihr Dorf, Freiamt, diskutiert über eine Ganztagsgrundschule. Roser sagt: „Wir wollen einfach keine verpflichtende Ganztagsschule für unsere Kinder. Ich habe nichts dagegen, wenn andere das in Anspruch nehmen, aber ich möchte für meine Kinder Schulzeiten wie früher, von 8 bis 12 oder 13 Uhr.“
Das Thema treibt gerade viele Gemeinden in Baden-Württemberg um. Überall bereiten sich Bürgermeister auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung und -betreuung vor, der 2026 in Etappen eingeführt wird. Verwaltung und Rektoren brüten über Konzepten: verbindliche oder offene Ganztagsschule? Oder doch flexible Nachmittagsbetreuung? Am Ende entscheiden Gemeinderäte.
Für Paula Roser ist die Sache klar. Sie will nicht, dass ihre Kinder – die Tochter vier Jahre, der Sohn eins – mal in eine Ganztagsschule müssen. „Ich habe das Gefühl, ich muss die Leute aufwecken“, sagt sie an einem Mai-Nachmittag am Tisch im Eckzimmer des Bauernhofs, zwischen Kachelofen, Familienfotos und Playmobil am Fußboden. „Viele wissen gar nicht, worum es da gerade geht.“
Widerstand in der WhatsApp-Gruppe
Vor ein paar Tagen kam eine Bedarfsabfrage von der Gemeinde, einen Info-Abend gab es neulich auch. Verschiedene Modelle wurden vorgestellt. Roser und ihre Mitstreiterin Sarina Kern, die jetzt mit ihr am Tisch sitzt, hatten das Gefühl, die Leute sollten in Richtung Verbindlichkeit gelenkt werden. Nun organisieren sie Widerstand, haben eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, Handzettel gedruckt und im Dorf aufgehängt.

Der Ganztag polarisiert, in Baden-Württemberg besonders. Kaum ein Bundesland hat so wenige Ganztagsschulen. Gleichzeitig ähnelt der Betreuungsbedarf dem Bundesdurchschnitt. Immer mehr Eltern arbeiten immer mehr. Zuletzt besuchten 217.000 Grundschüler im Land ganztägige Bildungs- oder Betreuungsangebote: 56 Prozent der Kinder. Doch 62 Prozent der Eltern wünschten sich einen Ganztagsplatz für ihr Kind. Kommt der Rechtsanspruch, dürften es noch mehr werden.
Es fehlt an Räumen und Personal
Um den Bedarf zu decken, fehlen Räume, Konzepte und vor allem Personal. 40.000 bis 60.000 neue Plätze müssten die zuständigen Kommunen im Land bis 2026 schaffen – nach Nordrhein-Westfalen und Bayern der dritthöchste Wert.
Kommunen haben richtig Druck. Schaffen sie nicht genügend Plätze, können Eltern sie verklagen. Zwar stecken Bund und Land Hunderte Millionen Euro in den Ausbau, doch es gibt nicht genug Personal. Deshalb versuchen sie, Verbände und Vereine einzubinden. Oder sie lagern das Thema aus: an Schulen und damit ans Land. Beides schafft neue Probleme.
Keine Finanzierungszusagen, nur Minimalregeln
„Wir müssen aufholen“, sagt Theresa Schopper (Grüne). Die Kultusministerin von Baden-Württemberg steht vor Hunderten Zuhörern auf einer Bühne der Sparkassen-Akademie in Stuttgart, um ein neues „Leitbild Ganztag“ vorzustellen. Rund 30 Organisationen haben sich darauf verständigt: von Kirchen über Sportvereine bis zum Tonkünstlerverband.
Bis zuletzt wurde hart um das Papier verhandelt. Kommunen wollten Finanzierungszusagen des Landes. Davon ist im Papier keine Rede, stattdessen von „Gelingensfaktoren“ oder „niederschwelliger Einstiegsqualifikation“. Auch wenn um Finanzen weiter verhandelt wird, ist klar: Es geht um Minimalregeln für den Massenausbau.
Was wollen Lehrer und Eltern?
„Wir müssen die Kapazitäten vor Ort ausweiten, um die Ansprüche der Eltern erfüllen zu können“, sagt Schopper. Sie setzt auf Ganztagsschulen, von denen sie sich „mehr Bildungsgerechtigkeit“ erhofft. Für Kommunen sind die attraktiv: Rektoren bekommen dann mehr Lehrerstunden. Die können sie wegen des Lehrermangels zwar kaum besetzen, aber „monetarisieren“ und damit außerschulische Partner bezahlen.

Trotzdem ist nur jede fünfte Grundschule Ganztagsschule. Warum? Als gesichert kann gelten, dass viele Lehrer es ablehnen, weil es ihre Arbeitsgewohnheiten ändert. Viele Bildungspolitiker sagen außerdem: Weil Ganztagsschulen im Land keine Tradition hätten und Eltern flexible Betreuung wollten.
Betreuungsfrage wird zum Statussymbol
Die Frage ist aber: Wenn hinter dem Label „Ganztagsschule“ meist Halbtagsschulen stecken, die mit Einkünften „monetarisierter“ Lehrerstellen nicht qualifiziertes Personal anstellen können, das nachmittags irgendwie Kinder hütet (im schlimmsten Fall verwahrt) – wieso sollten Eltern das wollen?
Schon jetzt haben viele ein schlechtes Gewissen, wenn sie lange arbeiten. Seinen Kindern die Betreuung zu ersparen, ist zum Statussymbol geworden. Wo es beides gibt, gelten Halbtagsklassen als sozial homogener, hier treffen sich oft Kinder des Bürgertums, das auch bei den Hausaufgaben hilft.
Kommunen können selbst entscheiden
Um mehr Ganztagsschulen zu erreichen, gab Schopper 2023 dem Wunsch vieler Gemeinden nach: Sie änderte das Gesetz, sodass Kommunen entscheiden können, Schulen umzustellen – notfalls gegen den Wunsch von Lehrern oder Eltern. Seitdem steigen die Zahlen. Wurde 2023/24 landesweit nur eine Umwandlung beantragt und 2024/25 zwei, liegen für 2025/26 Anträge von elf Schulen vor.
Und bei Leuten wie Paula Roser und Sarina Kern geht die Angst um, dass ihre Schule ein verbindliches Modell bekommt. Wer das nicht will, müsste sein Kind auf eine andere Schule schicken. Auf dem Land kann die einige Kilometer weg sein.
„Mein Gefühl sagt etwas anderes“
Sarina Kern betont: „Die Kinder gehören zu unserem Alltag. Sie immer mehr in Institutionen outsourcen zu müssen, fühlt sich für mich falsch an.“ Sie ist selbst Erzieherin, aktuell in Elternzeit, und sagt, sie komme sich „manchmal ein bisschen rückschrittlich“ vor. „Viele Bildungswissenschaftler unterstützen Ganztagsgrundschulen, andere Länder machen das schon lange. Aber mein Gefühl sagt etwas anderes.“
Ein Wissenschaftler, der seit Jahren zum Ganztag forscht, ist Markus Sauerwein von der TU Dortmund. Er hält auch einen Vortrag bei Schoppers „Leitbild“-Veranstaltung. Ein paar Tage später sagt der Professor für Sozialpädagogik am Telefon: „Aktuell geht es beim Ganztag vornehmlich um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Über Bildungsziele wird zwar viel geredet, aber das ist durch die Realität nicht gedeckt.“
Was heißt schon Qualität?
In den Debatten um den Ganztag werde zwar oft über Qualität gesprochen, aber der Begriff sei schwierig. Alle Beteiligten verstünden etwas anderes darunter: „Für Eltern geht es vor allem um sichere Abdeckung ihrer Betreuungsbedarfe. Kinder möchten Anerkennung, Mitbestimmung, gute Beziehungen und Abwechslung, aber ihnen ist beispielsweise auch ein gutes Mittagessen ganz wichtig. Den Organisatoren geht es vor allem um Personalressourcen und pädagogische Ziele.“
So sei kaum ein gemeinsamer Qualitätsbegriff erreichbar.

Soziale Unterschiede bleiben trotzdem
Ohnehin müsse man die Wirkungen der Ganztagsangebote differenziert betrachten. „Viele Politiker hoffen, dass mehr Ganztag die Lösung der sozialen Unterschiede im Bildungssystem bringt. Studien zeigen: Das passiert nicht.“
Ganztagsschulen könnten familiäre Unterschiede nicht aufheben, ermöglichten aber mehr Teilhabe für benachteiligte Kinder. „Gute Ganztagsangebote können immerhin soziale und emotionale Kompetenzen verbessern. Für bessere schulische Leistungen von Kindern durch den Ganztag gibt es keine konsistenten Belege. Ich kenne aber auch keine Studien, die negative Effekte zeigen.“
Lebensraum Familie
Paula Roser sagt: „Wir bieten doch einen tollen Lebensraum für unsere Familie. Wir haben einen tollen Hof, die Kinder lernen so viel von ihren Großeltern und Tanten, von meinem Mann und mir. Schule ist nicht alles.“
Noch ist nichts entschieden. Die Bürgermeisterin von Freiamt teilt mit, sie werde in einer Gemeinderatssitzung Ende Juni über die Ergebnisse der Bedarfsabfrage informieren. „Die Entscheidung, wie die Erfüllung des Rechtsanspruchs aus dem Ganztagsförderungsgesetz ab Schuljahr 2026/27 umgesetzt wird, wird voraussichtlich in der letzten Sitzung vor der Sommerpause Ende Juli fallen.“ Paula Roser wird da sein.