Die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 veränderten die Welt, fast 3000 Menschen starben. Innerhalb von 20 Minuten krachten zwei Flugzeuge in die Türme des weltberühmten World Trade Centers in New York. Eine weitere halbe Stunde später raste ein drittes Flugzeug ins Pentagon, den Sitz des US-Verteidigungsministeriums in New York. Während der Südturm des World Trade Centers in sich zusammenfiel, stürzte südlich von Pittsburgh ein viertes Flugzeug auf freiem Feld ab. Passagiere hatten sich gegen die Entführer zur Wehr gesetzt.
9/11, wie die Amerikaner sagen, hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Auch in Deutschland weiß fast jeder, wo er sich befand, als es geschah. Damals kam es zu einer Grunderschütterung, die bis heute bei vielen Menschen nachwirkt. Aber wie geht es denen, die die Terrorangriffe miterlebten? Der USA-Korrespondent des SÜDKURIER hat zwei von ihnen befragt. Eine Deutsche hat sich die Identifikation der Toten zur Lebensaufgabe gemacht.
Feuerwehrmann Tony Mussorfiti hat in der Katastrophe Stärke gefunden
Es war der Faktor Zufall, der am 11. September 2001 über Leben oder Tod entschied. Eine verpasste U-Bahn, ein Stau rettete manchem das Leben. Feuerwehrmann Tony Mussorfiti (65) überlebte die Terroranschläge, weil ein Vorgesetzter in letzter Minute den Dienstplan geändert hatte. „Eigentlich wäre ich an diesem Tag dran gewesen,“ erzählt Mussorfiti. So erfuhr er beim Frühstück von den Attacken im Radio. Raste zu seiner Feuerwache. Warf sich in die Schutzkleidung. Und machte sich mit anderen Freiwilligen durch verstopfte Straßen auf den langen Weg zur Südspitze Manhattans.
Auf der Fahrt schrieb er sich mit einem Farbstift den Namen, die Dienstnummer und die Blutgruppe auf den Arm – es sollte eine Identifizierung leichter machen. Als er einen halben Kilometer vom World Trade Center entfernt war, stürzte der letzte der beiden Türme ein.
Von den 22 diensthabenden Feuerwehrmännern seiner Wache in Queens starben an diesem Tag 19. 51 Kinder wurden so zu Waisen, erzählt er, und zwei von ihnen kamen erst nach 9/11 zur Welt und lernten deshalb ihren Vater nicht kennen. Der Sohn und die Tochter Mussorfitis, damals zwölf und 15 Jahre alt, müssen dieses Schicksal nicht teilen. Der Feuerwehrmann wäre deshalb ein perfekter Kandidat für das, was Psychologen als „survivor guilt“ bezeichnen – Schuldgefühle, im Gegensatz zu 343 getöteten New Yorker Kollegen überlebt zu haben. Doch davon will Mussorfiti nichts wissen. „Ich habe stets versucht zu verhindern, dass mich dieser Tag definiert“, sagt er.
Dennoch sind die Folgen für ihn schwerwiegend. „Es gibt die Zeit vor 9/11 und die Zeit nach 9/11 für mich“, beschreibt er sein heutiges Leben. Vor 9/11 existierten keine Albträume und es gab es keine Lungenkrankheit, die er sich durch die Arbeiten auf „Ground Zero“ zuzog und wegen der er vor elf Jahren in Ruhestand ging.
Mussorfiti sagt, er habe dennoch Stärke aus der Katastrophe gezogen. „Das ist mir gelungen. Auch weil ich wie ein Soldat akzeptiert habe, dass ich in meinem Job sterben kann“, sagt er. Er weiß, dass das Leben unberechenbar ist. „Manchmal muss man den Nachtisch zuerst essen“, sagt er und meint damit: Jeden Tag genießen.
Die Deutsche Mechthild Prinz hat daran mitgearbeitet, die Opfer zu identifizieren
Unvergessen sind auch die Opfer, deren Bilder weltweite Erschütterung auslösten. So die komplett mit Staub eingedeckte „Dust Lady“ Marcy Borders, die nach dem 11. September zehn Jahre lang nicht arbeiten konnte. 2015 schließlich starb sie mit 42 Jahren an Krebs. Oder „The Falling Man“, ein an der Fassade des Wolkenkratzers kopfüber hinunterstürzender Mann.
Es wurde nie zweifelsfrei geklärt, wer der „Falling Man“ war. Und auch die Identität von vielen weiteren Toten bleibt ungeklärt – die Deutsche Mechthild Prinz arbeitete genau daran. Die heute 63-Jährige aus dem Rhein-Sieg-Kreis kam in den 90er-Jahren für einen Forschungsaufenthalt nach New York und blieb. Als Gerichtsmedizinerin für die Metropole meldete sie sich am 11. September 2001 direkt für die Nachtschicht.
„Dieser Zusammenbruch, der hat ja alles pulverisiert – Schreibtische, Computer. Da waren viele Leichen natürlich auch fragmentiert“, erinnert sie sich. Auf der letzten Vermisstenliste der Anschläge in New York stehen 2753 Menschen. In der Gerichtsmedizin und bei Prinz in der forensischen Biologie wurden in den Tagen und Wochen danach 289 intakte Leichen und fast 22.000 Leichenteile angeliefert.
Die Vorgabe: Alles, was aussieht wie menschliches Gewebe und größer ist als ein halber Daumen, muss getestet werden. Die Ergebnisse werden abgeglichen mit Informationen und Materialien, die die Familien der Vermissten abgegeben haben. Die Arbeit ist damals noch nicht digitalisiert, DNA-Proben gehören nicht zur Routine. „Das war rund um die Uhr, Tag und Nacht“, erinnert sich Prinz. „Ich glaube, ich war zwei Tage zu Hause bis Dezember.“
Die Arbeit dauert noch immer an. Erst 60 Prozent der Opfer sind inzwischen identifiziert. Mit immer neuen Technologien und Methoden wird an den verbleibenden Überresten gearbeitet, ein mühsamer und langwieriger Prozess. „Manche Proben sind nicht identifiziert, weil keine Familie etwas abgegeben hat, und manche Opfer sind nicht identifiziert, weil nichts von ihnen gefunden wurde“, sagt Prinz, die inzwischen an die Fakultät für forensische Wissenschaften des John Jay College in Manhattan gewechselt ist.
Mechthild Prinz glaubt nicht daran, dass jemals die Identität aller Opfer festgestellt werden kann. Trotzdem sei es wichtig, weiterzumachen – „weil es den Opferfamilien versprochen worden ist“.
Was sagt man zu seinem Partner, ahnend, dass sein Schicksal besiegelt ist? Der Jurist Ted Olson verlor seine Frau
„Alles wird okay sein. Ich liebe Dich.“ Dass waren die Worte, die der Jurist Ted Olson aus Washington vor 20 Jahren an seine Frau Barbara richtete. Abschiedsworte, für die es – wie bei vielen Hunderten Menschen in den brennenden Türmen des World Trade Center – nur Sekunden Zeit gab.

Der 11. September 2001 ist Ted Olsons Geburtstag. Der damals 60-Jährige sitzt an seinem Arbeitsplatz im US-Justizministerium, als die TV-Sender zeigen, wie zwei gekaperte Flugzeuge in die Wolkenkratzer an der Südspitze Manhattans prallen. Kurz nach dem zweiten Crash klingelt sein Handy. Es ist die 45-Jährige Barbara Olson, die im American Airlines Jet mit der Flugnummer 77 sitzt und von Washington nach Los Angeles fliegen will. Zweimal gelingt es ihr von 9.16 Uhr an anzurufen, bevor die Leitung tot wird.
„Die Gespräche dauerten vielleicht eine Minute, zusammengerechnet“, erinnert sich ihr Mann in einem Interview. Ted Olson erfährt auf diesem Weg, was niemand in den USA an 9/11 bisher wusste: Das Flugzeug ist die dritte von insgesamt vier gekaperten Maschinen. Die fünf beim Einchecken nur nachlässig kontrollierten Entführer haben, so schildert es Barbara Olson – eine prominente TV-Kommentatorin – die 51 Passagiere und die sechs Crew-Mitglieder im hinteren Teil der Kabine zusammengepfercht. Und bedrohen sie mit legal an Bord gebrachten Teppich-Schneidemessern.
Sie will von Ted wissen, was sie den Piloten sagen soll, wie diese sich verhalten sollen. Ihr Mann enthüllt im ersten der beiden Telefonate, was mit den beiden Jets in New York geschehen ist. Dass es dort kein Happy End gegeben hat. Dennoch beteuern beide trotzig : „Alles wird okay werden“.
„Wir haben noch einmal Worte der Zuneigung ausgetauscht,“ beschreibt Ted Olson die letzten Sekunden des zweiten Telefonats. Dann bricht die Leitung erneut. Wenig später berichten die ersten Sender von einem Feuerball am Pentagon. Es ist 9.37 Uhr. „Ich habe gewusst, dass es Barbaras Maschine gewesen sein muss“, sagt der Jurist. Das eigentliche Ziel könnte – das lässt sich am Flugradar ablesen – wohl das Weiße Haus gewesen sein. Doch die Kidnapper drehten mit einem Manöver, das erhebliches Training voraussetzt, plötzlich in Richtung Pentagon ab.
Drei Monate dauert es, bis Leichenteile als die sterblichen Überreste von Barbara Olson identifiziert werden. Ted Olson hat sie im Familiengrab im Bundesstaat Wisconsin beisetzen lassen. Hier verbringt er auch meistens die 9/11-Gedenktage – und seinen Geburtstag. Schon kurz nach den Attacken hatte er – auch angespornt von seiner damals 81-jährigen Mutter – beschlossen, sein Leben nicht vom Trauma der Terroranschläge und dem Verlust seiner Partnerin dominieren zu lassen. „Barbara, die das Leben so liebte, hätte gewollt, dass ich mein Leben nach meinen Vorstellungen weiterlebe“, vertraute er einmal einem Reporter an.
Ted Olson hat 2006 wieder geheiratet, eine Steuer-Rechtsanwältin. Und wenn es für ihn eine Lehre vom dunkelsten Tag seines Lebens gibt, dann ist es diese: „Schreckliche Dinge können uns geschehen. Aber wenn wir nach Glück und Liebe und Erfüllung suchen, werden wir es finden.“