Es wirkt, als hätte Christophe Naudin eine düstere Vorahnung von den grauenhaften Ereignissen gehabt, die noch passieren könnten, lange bevor sie eintraten. Schon im Dezember 2015 fürchtete der Geschichtslehrer, dass er oder Kollegen eines Tages ein zweites Mal in einen Terroranschlag verwickelt werden könnten, nachdem er gelesen hatte, dass der selbst ernannte „Islamische Staat“ (IS) zu Attacken auf Schulen aufrief.

„Wir warten voller Ungeduld auf die Fortbildungen des Erziehungsministeriums, um auf einen Angriff im Lehrerzimmer durch Leute mit Sturmgewehren und Sprenggürtel zu reagieren“, schrieb er damals mit bitterer Ironie in sein Tagebuch. Versteckt in einem Abstellraum hatte der heute 44-Jährige gerade den islamistischen Angriff auf die Pariser Konzerthalle Bataclan am 13. November 2015 überlebt.

Bei der Terrorserie in der französischen Hauptstadt an jenem Abend tötete ein neunköpfiges Mord-Kommando 131 Menschen im Bataclan, vor dem Fußballstadion Stade de France und auf Terrassen von Bars und Cafés und verletzte mehr als 400 teils schwer.

Ein Mann geht am Eingang zum Pariser Musikclub Bataclan vorbei.
Ein Mann geht am Eingang zum Pariser Musikclub Bataclan vorbei. | Bild: Philippe Lopez/AFP

Naudin befand sich gemeinsam mit Vincent, einem Freund aus Schulzeiten, und einem Kollegen beim Konzert der US-Band „Eagles of Death Metal“ im Bataclan. Detailliert beschreibt er in seinen Aufzeichnungen, die er kürzlich unter dem Titel „Tagebuch eines Überlebenden des Bataclan. Historiker und Attentats-Opfer sein“ veröffentlichte, wie er das Eindringen von drei schwer bewaffneten Attentätern in die Konzerthalle, deren 1500 Plätze an diesem Abend vollständig besetzt waren, erlebt hat. Einer der Mörder, den er aus der Nähe wahrnimmt, wirke „wie ein sehr entschlossener Roboter, mit Hass im Blick, aber er schaut nicht zu mir“.

Naudin sieht auf die Rücken der Menschen im Bereich vor der Bühne, die sich auf den Boden drücken und erkennt dann allmählich die Blutflecken, die sich auf vielen dieser Rücken bilden, kann sich in Panik irgendwie hinter die Bühne und gemeinsam mit etwa 20 anderen Konzertbesuchern in einen Abstellraum retten, den sie verbarrikadieren.

Stundenlang harren sie aus – bis schließlich Polizisten das Gebäude stürmen und die Täter erschießen. Sein Freund Vincent, das sollte Naudin später erfahren, befand sich unter den Todesopfern.

Sorgen vor weiterem Anschlag

Nach diesen traumatischen Erlebnissen war Naudin sensibilisiert für die Gefahr. Anfang 2017 notierte er besorgt, sein neuer Unterrichtsraum sei „nicht ideal“ im Fall einer Attacke: „Er geht direkt auf den Schulhof, mit Fenstern ohne Vorhängen.“ Schon lange fühlte er sich als Zielscheibe – nicht unbegründet, wie sich nun zeigte.

Denn Mitte Oktober dieses Jahres wurde in Conflans-Sainte-Honorine, einem Städtchen rund 30 Kilometer von Paris entfernt, ein Lehrerkollege, Samuel Paty, auf dem Heimweg von der Schule brutal ermordet, sogar enthauptet. Der islamistische Täter, ein 18-jähriger, seit Jahren in Frankreich lebender Tschetschene, hatte über soziale Netzwerke von Paty erfahren.

Plakat mit dem Porträt des getöteten Lehrers Samuel Paty.
Plakat mit dem Porträt des getöteten Lehrers Samuel Paty. | Bild: Bertrand Guay/AFP

Im Internet lief zuvor eine vom Vater einer Schülerin angestoßene Hetzkampagne gegen den Lehrer, nachdem er im Unterricht über Staatsbürgerkunde Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

Auch Christophe Naudin hat mit seinen Schülern im Pariser Vorort Arcueil schon oft über Mohammed-Karikaturen gesprochen. In den Klassen gehe es dann immer lebhaft zu, aber alles laufe gut, berichtet er. „Ich sage ihnen: ‚Ihr müsst nicht einverstanden sein, ihr könnt sogar schockiert sein.‘ Aber danach erkläre ich ihnen die Meinungsfreiheit, die Grenzen des Gesetzes, den Unterschied zwischen dem Angriff auf eine Idee und auf Gläubige.“ Doch können Lehrer künftig noch angstlos über diese Themen sprechen?

Terrorgefahr besteht weiter

Der grausame Mord an Paty, gefolgt vom Attentat auf eine Kirche in Nizza, wo ein 21-jähriger Tunesier eine Woche später drei Christen tötete, sowie eine Messerattacke Ende September auf zwei Personen vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris, die schwer verletzt überlebten, haben offenbart, dass die Terrorgefahr in Frankreich keineswegs gebannt ist.

Chaotische Szenen nach Ende des Fußballspiels Deutschland-Frankreich.
Chaotische Szenen nach Ende des Fußballspiels Deutschland-Frankreich. | Bild: Franck Fife/AFP

Die permanente Angst, es könne jederzeit und überall erneut geschehen, kommt wieder an die Oberfläche. Verbreitet hat sie sich seit 2015 – dem vom islamistischen Terror besonders geprägten Jahr, das mit den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar begann und mit den Attacken des 13. November endete.

Dass „Charlie Hebdo“ Anfang September, zum Auftakt des derzeit noch immer laufenden Prozesses um die Attentate von Januar 2015, wieder Mohammed-Karikaturen abdruckte, löste wütende Proteste in manchen muslimisch geprägten Ländern aus. Das nannte der 25-jährige Pakistaner, der vor dem früheren Gebäude des Satiremagazins auf zwei Menschen einstach, auch als Tatmotiv.

Als Präsident Emmanuel Macron bei der Trauerfeier für Paty sagte, man werde auch künftig nicht auf Mohammed-Karikaturen verzichten, löste das erneut Boykott-Aufrufe für französische Produkte und weltweite Demonstrationen unter Muslimen aus.

Unterstützer im Januar vor Gericht

Viele der damals Betroffenen befinden sich immer noch in psychologischer Behandlung und blicken beunruhigt auf den Prozess um die Terrorserie, der im Januar 2021 beginnen und sechs Monate dauern soll. Bei den 20 Angeklagten handelt es sich überwiegend um mutmaßliche Unterstützter der Attentäter, aber auch um den einzigen überlebenden direkt Beteiligten unter ihnen, den Franzosen marokkanischer Abstammung Salah Abdeslam. Er befindet sich in Haft und hat sich bislang mit keinem Wort zu den Vorfällen geäußert.

Überlebende des Attentats umarmen sich in der Nähe des Bataclan.
Überlebende des Attentats umarmen sich in der Nähe des Bataclan. | Bild: Francois Guillot/AFP

Abdeslam gehörte zu einer weit verzweigten Terrorzelle, die nicht nur für die Morde am 13. November 2015 verantwortlich war, sondern auch für zwei brutale Anschläge am 22. März 2016 in Brüssel mit 32 Toten.

Fünf Jahre nach den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015 mit 130 Toten beginnt im ersten Halbjahr 2021 der Prozess, der das islamistische Terror-Netzwerk beleuchten soll

In Folge der November-Attentate rief Frankreichs damaliger Präsident François Hollande die höchste Terror-Warnstufe und den Ausnahmezustand aus. Dieser endete erst am 1. November 2017 unter Hollandes Nachfolger Macron. Gleichzeitig trat ein verschärftes Sicherheitsgesetz in Kraft, das den Behörden noch mehr Möglichkeiten etwa bei der Inhaftierung von Terrorverdächtigen oder bei der Wohnungsdurchsuchung einräumte.

Auch jetzt nach den jüngsten Anschlägen kündigte Macron eine Verschärfung des Kampfes gegen den Islamismus sowie Grenzkontrollen an. Denn anders als bei den Attentaten von 2015 handelte es sich zuletzt bei den Tätern nicht überwiegend um französische Staatsbürger, sondern um Ausländer; sie agierten nicht mehr in größeren Netzwerken und in direkter Verbindung zu Terrororganisationen, sondern alleine oder mit Unterstützung weniger und hatten sich wohl im Internet radikalisiert.

Leben im permanenten Ausnahmezustand

Der Forscher Gérôme Truc sieht es als problematisch an, dass die Antwort auf Anschläge überwiegend sicherheitspolitischer Natur ist und durch die neuen Gesetze gar eine Art „permanenter Ausnahmezustand“ herrsche. Studien zeigten allerdings, so der Wissenschaftler, dass die Attentate die französische Gesellschaft nicht intoleranter machten. „Sie ist vielfältiger, als man denken könnte und auch die Muslime werden nicht pauschal abgelehnt.“

Zwar seien Parolen der extremen Rechten stärker hörbar, aber es sei nicht repräsentativ. Im kollektiven Gedächtnis hätten sich die November-Anschläge vor fünf Jahren stark eingebrannt.

Für die Erinnerung der Betroffenen gilt das sowieso. Christophe Naudin begann, bald nach dem 13. November 2015 wieder auszugehen und sogar Rockkonzerte zu besuchen. Albträume, unter anderem von „Typen mit Kalaschnikows“ beim Angriff auf eine Schule, verfolgten ihn aber noch lange. Er macht weiter. Und zwar, so sagt er, als „einer, der nicht komplett tot ist“.