„Am 3. Januar weckten uns die Aufseher nachts vor Sonnenaufgang und befahlen uns, uns schnell anzuziehen“, das berichtet Oleksiy Belousov, 53-jähriger Grenzsoldat aus der Ukraine, am Telefon. Er ist einer der 230 ukrainischen Kriegsgefangenen, die am 3. Januar 2024 aus Russland befreit und gegen russische Gefangene ausgetauscht wurden.
„Es war eiskalt“, erzählt er weiter. „Ich trug die einzigen nassen Socken, die ich am Abend zuvor gewaschen hatte, und ein dünnes Hemd. Ich hatte keine andere Kleidung. Wir wurden wie Tiere in ein fensterloses Gefangenentransportfahrzeug verladen. Ich dachte, wir würden in ein anderes Gefängnis transportiert werden. Wir wussten nie, wohin wir gebracht wurden“, sagt Oleksiy Belousov am Telefon aus dem Kiewer Militärkrankenhaus, in das er vom ukrainischen Sicherheitsdienst zur Behandlung gebracht wurde.
Es handelte sich um den größten Gefangenenaustausch zwischen den Kriegsparteien seit Kriegsbeginn, er wurde durch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) vermittelt.
Frühjahr 2022: Belousov verteidigt in den ersten 48 Tagen des Krieges die Stadt Mariupol und gerät im April 2022 in russische Gefangenschaft. Dort verbringt er ein Jahr und acht Monate. Im Sommer 2022 werden seine Frau und seine drei Kinder vom ukrainischen Kommando darüber informiert, dass er im Einsatz vermisst werde. Seine Frau Tamara gibt die Hoffnung nie auf, ihn lebend anzutreffen.
Während dieser Zeit erhält seine Familie mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes zwei Briefe von Belousov. Die Briefe sind ganz offensichtlich unter Diktat geschrieben und folgen demselben Muster: „Ich bin gesund, wohlgenährt, es fehlt mir an nichts.“ Oleksiy Belousov hingegen erhält nie eine Antwort von seiner Frau. Er weiß nichts vom Schicksal seiner Mutter, seiner Frau und seiner drei Kinder, die sich zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme in den russisch besetzten Gebieten aufhielten.
Abgemagert und deprimiert, aber noch am Leben
Ein Jahr nach seiner Gefangennahme erscheint im Internet ein Video, in dem sich Oleksiy Belousov mit anderen Kriegsgefangenen an seine Familie wendet und sie auffordert, Druck auf die ukrainischen Behörden auszuüben, die angeblich nicht bereit seien, ihre gefangenen Bürger auszutauschen. Alle ukrainischen Kriegsgefangenen tragen schwarze Gefängniskleidung mit einem weißen Streifen, wie sie in Russland für verurteilte Straftäter üblich ist. Auf dem Video sieht Belousov abgemagert und deprimiert aus. Zumindest bekommt die Familie so eine Bestätigung, dass er am Leben ist.
In den anderthalb Jahren seiner Gefangenschaft wird Belousov mit anderen ukrainischen Kriegsgefangenen acht Mal in verschiedene Gefängnisse gebracht. Den Kriegsgefangenen werden Handschellen angelegt und die Augen verbunden, um zu verhindern, dass sie sich orientieren können.

Januar 2024: „Erst als wir in den Bus verfrachtet wurden, wurde uns klar, dass es sich um einen lang erwarteten Austausch handelte“, so Oleksiy Belousov. „An der Grenze zwischen der Ukraine und Russland fuhren Busse mit russischen Kriegsgefangenen auf uns zu. Als sie auf gleicher Höhe mit unseren Bussen waren, sahen wir die Gesichter der Russen. Im Vergleich zu uns sahen sie aus, als kämen sie von einem Kuraufenthalt zurück.“
Während seiner Gefangenschaft hat er selbst 30 Kilogramm an Gewicht verloren. Im März 2022 wog er 87 Kilogramm, jetzt sind es noch 57. „Wir bekamen zwei Löffel Brei zum Frühstück, etwa 100 Gramm Suppe zum Mittagessen und einen halben Löffel Kartoffeln zum Abendessen. In einigen Gefängnissen bekamen wir weder Tee noch Essen. Wir mussten Kartoffelschalen und Salzwasser essen“, erinnert er sich.
Körperliche Gewalt ist an der Tagesordnung
Die Zellen für die ukrainischen Kriegsgefangenen hatten keine oder zugeklebte Fenster. Es sei unmöglich gewesen, die Tageszeit zu erkennen. Systematische Verhöre, die Tag und Nacht stattfinden, zerrütten Belousovs Psyche. Körperliche Gewalt ist Alltag, berichtet der ehemalige Kriegsgefangene. „Sie schlugen zu, wenn es dem Wärter nicht gefiel, wie jemand dastand oder wie er antwortete“, sagt der 53-Jährige am Telefon. „Ein paar Tage vor dem Austausch starb mein Zellengenosse vor meinen Augen.“ Die Aufseher hätten dem Mann in die Rippen, die Gelenke und in die Nieren geschlagen.
Oleksiy Belousov glaubt, dass er „mehr Glück“ gehabt habe als andere. Er wird nur in die Rippen geschlagen, aber nicht misshandelt. Freitags bekommen die Gefangenen Bücher gebracht. Während der Gefangenschaft liest er mehr als 70 Bücher.
Welches Interesse hat Russland bewogen, einem Gefangenenaustausch in dieser Dimension zuzustimmen? Laut einer Publikation des Institute For The Study Of War hat Russland den Austausch von Kriegsgefangenen am 3. Januar offenbar genutzt, „um zu zeigen, dass es daran interessiert ist, im Rahmen des Völkerrechts und der internationalen Normen zu handeln“. Zuvor seien verschiedene Fälle von Misshandlung ukrainischer Kriegsgefangener bekannt geworden. Dem Image der Nation, die im Westen ohnehin als Angreifer diskreditiert ist, sind solche Berichte nicht zuträglich.
Das Außenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate gab am Tag des Kriegsgefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine auf seiner offiziellen Website den Erfolg der Vermittlungsbemühungen bekannt. Wie aber kam es zum Einsatz der VAE, die den Gefangenenaustausch zwischen den Kriegsparteien vermittelten?
Darüber gibt es kaum genauere Informationen. Sicher ist, dass Russland seine diplomatischen Beziehungen zu den VAE bereits seit Längerem verstärkt, unter anderem reiste Wladimir Putin im Dezember 2023 in die Golfstaaten. Laut einem Bericht des „Handelsblatts“ vom Dezember 2023 nutzt Russland die Beziehung zum Golfstaat auch, um die Sanktionen der EU zu umgehen – als Umschlagplatz für Waren, die sich auch für die militärische Produktion eignen.
Sucht die russische Führung nach einem Zufluchtsort?
Ukrainische Experten glauben zudem, dass Russland dort Garantien für sichere Zufluchtsorte für die russische Staatsspitze suche – für ein Szenario nach Ende des Krieges. Die VAE erreichen im Gegenzug als Vermittler des Austauschs einen diplomatischen Erfolg, der ihre Position stärkt. Seit Längerem streben die kleineren Golfstaaten, allen voran die VAE, nach größerem regionalen Einfluss, schreibt die Stiftung Wissenschaft und Politik in einem Essay.
Laut einer ukrainischen Regierungskommission befinden sich aktuell 4337 Personen, darunter 3574 Militärs und 763 Zivilisten, in russischer Gefangenschaft. Dies teilte das Ministerium für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine mit. Das sind offizielle Angaben, zu vermuten ist allerdings, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Insgesamt sind bislang 2828 ukrainische Soldaten aus russischer Gefangenschaft befreit worden, so der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets.
Oleksiy Belousov ist jetzt im Sanatorium
Oleksiy Belousovs Zukunft ist unterdessen ungewiss. Seine Gesundheit ist nachhaltig beeinträchtigt. Die Rehabilitation in einem Sanatorium wird etwa zwei Monate dauern. Die ehemaligen Gefangenen haben Anspruch auf eine Behandlung auf Kosten des ukrainischen Staates, bei Notwendigkeit auch im Ausland.
„Ich weiß noch nicht, ob ich von diesem Recht Gebrauch machen werde“, sagt Oleksiy Belousov. „Jetzt denke ich darüber nach, wie ich meine Familie unterstützen kann. Am liebsten würde ich mit meinen Kindern und meiner Frau in der Ukraine bleiben und arbeiten.“ Ein Zuhause hätten sie nicht mehr, erzählt er weiter. „Unser Haus steht im besetzten Dorf Sofiyivka im Südosten der Ukraine. Es wurde von den Besatzern geplündert und besetzt.“