Ihre Flucht hat zunächst kein konkretes Ziel, Tetyana Goryachova und ihr Mann fahren vier Tage nach Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zunächst zu ihrer gemeinsamen Tochter, die mit Mann und Kind in Polen lebt.
Dort eine gut bezahlte Arbeit zu finden, ist schwierig, deshalb nutzt Tetyana Goryachova im Mai 2022 die Gelegenheit eines kostenlosen Fluges nach Basel. Von dort aus sucht sie ein Hotel und kommt zunächst in Konstanz-Litzelstetten unter. Erst später gelingt es ihr, eine reguläre Arbeit zu finden, und sie und ihr Mann ziehen nach Konstanz-Fürstenberg um.
In der Heimat war sie Chefredakteurin
In ihrer Heimatstadt Berdyansk in der Ukraine war Tetyana Goryachova Chefredakteurin und Direktorin der Wochenzeitung „Delovoy Berdyansk“ (deutsch etwa: Handelsblatt Berdyansk). Mit einem Team aus 15 Redakteuren begleitete sie die Ereignisse der Stadt, zum Medienhaus gehörten auch Radio und ein Fernsehsender. Einfach sei dies in den wechselhaften politischen Verhältnissen in der Ukraine meist nicht gewesen, auch lange vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, berichtet die 57-Jährige.
Nachdem sie mehrere Artikel über Korruption in der lokalen Verwaltung und die Entlassung von Personal im örtlichen Krankenhaus publiziert hatte, wurde die Redakteurin an einem Winterabend im Jahr 2002 auf dem Weg nach Hause von einem Unbekannten angegriffen, der ihr Säure ins Gesicht kippte. „Es war zu dunkel, um ihn zu erkennen. Ich habe es danach nur noch nach Hause geschafft“, erzählt sie im Rückblick. Sie wird von Ärzten erstversorgt, später ins Krankenhaus gebracht. Die ukrainischen Ärzte können ihr nicht versprechen, ihr Augenlicht retten zu können.
Nach Säureangriff hilft ihr ein amerikanischer Kollege
Mit der Hilfe eines amerikanischen Journalisten, der in den ukrainischen Medien von dem Vorfall hört, weil er mehrere Monate in Kiew verbringt, wird Tetyana Goryachova schließlich in einer Spezialklinik in den USA behandelt, sodass sie nicht erblindet. Nach diesem Vorfall arbeitet die Redakteurin dennoch weiter in ihrem Beruf, der für sie eine Herzensangelegenheit ist – und steigt zur Chefredakteurin auf.
Was ein Angriff auf ihre Person nicht schaffte, erledigt Jahre später der Krieg: Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beendet Tetyana Goryachovas berufliche Tätigkeit abrupt. „Die Stadt wurde ohne einen einzigen Schuss der Gegenwehr von den russischen Besatzern eingenommen“, berichtet die 57-Jährige.
Am Folgetag erscheinen russische Männer in Zivil, die sie im Rückblick als Geheimdienstmitarbeiter identifiziert, bei ihr zu Hause und bieten ihr eine „Zusammenarbeit“ an. Sie machen auch deutlich, dass die Alternative intensive Verhöre wären. Tetyana Goryachova und ihr Mann entscheiden sich vier Tage nach Kriegsbeginn, ihre Heimat zu verlassen.
Nun leben die beiden in Konstanz und hoffen darauf, bleiben zu können. Und darauf, irgendwann wieder in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten zu können. Denn eine Heimatstadt, in der sie in Sicherheit leben könnten, haben sie nicht mehr.