Herr Knaus, die Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln sind verheerender denn je. Noch gibt es keine nachgewiesenen Corona-Infektionen. Müsste das Lager in Moria auf Lesbos nicht komplett geräumt werden?

Es gibt seit 2016 auf den griechischen Inseln nur so viel Platz, um Tausend Menschen menschenwürdig unterzubringen. Heute sind es 42.000. Angesicht der Gefahren in Corona-Zeiten ist klar, dass mindestens 35.000 sofort anderswo hingebracht werden müssten. Es gibt derzeit weder Asylverfahren noch Rückführungen.

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Wohin denn?

Auf das griechische Festland. Nach einem Entschluss der Regierung in Athen könnte Internationale Organisation für Migration, könnten andere in wenigen Tagen temporäre Zeltlager für 15.000 errichten. Noch einmal 10.000 könnten in derzeit leeren Hotels untergebracht werden. Länder wie Deutschland könnten sofort helfen, indem sie einige der 10.000 bereits anerkannten Flüchtlinge aus Unterkünften, die die EU auf dem Festland bezahlt, zu sich holen. So würde Platz geschaffen, eine humanitäre Katastrophe vermieden. Und Geschichte geschrieben.

Wie konnte es so weit kommen, dass die Situation auf den griechischen Inseln sich wieder so verschlimmert?

Es war schon lange schlimm, doch dass sich die Lage erneut verschärft, hat verschiedene Gründe. Es kamen allein in drei Monaten Ende 2019 30.000 auf den Inseln an. Bereits davor war das griechische Asylsystem zusammengebrochen. Es rächte sich, dass sich jahrelang so viele in Europa, aber auch in Athen, nicht um die Inseln kümmerten. Die neue griechische Regierung hat 2019 zunächst sogar das Migrationsministerium abgeschafft, um es dann wieder zu schaffen.

Wieso hat die Türkei den Druck auf die EU so erhöht?

Man vergaß in der EU erstaunlicherweise, warum die Türkei seit 2016 an dieser Einigung festhielt, obwohl sie dreimal mehr syrische Flüchtlinge im Land hat als die gesamte EU: weil sie großzügige finanzielle Unterstützung für diese Flüchtlinge erhielt. 99,5 Prozent der geflüchteten Syrer sind auch 2019 in der Türkei geblieben. Doch die Unterstützung für diese Menschen war nur auf einige Jahre festgelegt und die sechs Milliarden Euro an Hilfsgeldern bis 2019 verplant. Und es liegt bis heute kein neues Angebot der EU auf dem Tisch.

Wie geht Griechenland mit der Situation um?

Als die Türkei begann, an der Landesgrenze Druck aufzubauen und Migranten an die Grenze brachte, eine verwerfliche Instrumentalisierung dieser Menschen, setzte Griechenland das Asylrecht aus und stieß die Asylsuchenden mit Gewalt über die Grenze zurück.

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Warum handelt die griechische Regierung so?

Athen wirkte stark, entschlossen, sprach von einer Invasion. Diese Politik war in Griechenland auch sehr populär. Dazu wurde Athen von der EU unterstützt. Somit wurden Pushbacks als legitime Methode des Grenzschutzes definiert. Bleibt es dabei, bedeutet das nichts anderes als das Ende der Flüchtlingskonvention in Europa. Oder aber das Recht auf Asyl wird wiedereingesetzt. Das aber wird Athen nur tun, wenn es zu einer Einigung mit der Türkei kommt.

Eine Flüchtlingsfamilie in dem Lager in Moria, auf der griechischen Insel Lesbos, trägt Masken zum Schutz gegen das Virus.
Eine Flüchtlingsfamilie in dem Lager in Moria, auf der griechischen Insel Lesbos, trägt Masken zum Schutz gegen das Virus. | Bild: Manolis Lagoutaris

Wie kann ein neues Abkommen mit der Türkei denn aussehen?

Die EU und Griechenland müssen der Türkei sofort ein Angebot machen: weitere finanzielle Unterstützung für die Integration von Flüchtlingen auch in den nächsten Jahren. Auch Ankara muss realistisch sein und nicht Unmögliches verlangen. Griechen wie Türken haben ein Interesse auf der Erklärung von 2016 aufzubauen. Kooperation auf der Basis der Flüchtlingskonvention ist im Interesse beider Seiten.

Bei Athen ist eine Frau aus einem Flüchtlingslager an dem Virus erkrankt. Inzwischen sind über 20 weitere Menschen dort infiziert. Haben die die Lage bislang unterschätzt?

Ich spreche viel mit Beamten vor Ort. Deren Einschätzung könnte nicht klarer sein: Es gibt derzeit keinen Plan, sollte Corona in den Lagern ausbrechen. Es „wäre reines Glück, wenn es auf den Inseln zu keiner Katastrophe kommt“ sagte mir jemand. Das ist tatsächlich die Politik der EU im Jahr 2020: Man hofft, dass es nicht zu einer Katastrophe kommt, aber macht nicht das, was notwendig wäre, um sie zu vermeiden.

Wie lange ist die Lage in Griechenland noch durchzuhalten? Noch gibt es keine bestätigten Corona-Fälle in den Lagern. Wie lange kann das noch gut gehen?

Ich bin kein Hellseher. Und wir alles wissen, dass es menschlich ist, unsichtbare Gefahren zu unterschätzen, und exponentielles Wachstum von Gefahren nicht zu begreifen. Aber um zu wissen, dass es fahrlässig ist, zu einer Zeit, in der überall Treffen von mehr als zwei Menschen untersagt werden, Tausende dicht gedrängt in Lagern festzuhalten, in denen sich niemand die Hände waschen kann, auf Inseln ohne medizinische Infrastruktur, muss man nicht Virologie studiert haben. Dass das schiefgehen wird, weiß man ohne magische Glaskugel.

Was muss jetzt passieren?

Das Wichtigste: Die griechische Regierung sollte das Problem ernst nehmen. Länder wie Deutschland müssten Athen ein Angebot machen. Im nächsten Schritt müssten sich Brüssel und die Türkei auf ein neues Abkommen einigen, so dass Athen nicht mehr auf die Abschreckung von Migranten setzen muss.

Wie groß sind denn die Aufnahmekapazitäten in Deutschland derzeit?

Gerade erst hat das Auswärtige Amt 170.000 Deutsche aus aller Welt zurückgeholt. Sagen wir, Deutschland würde anbieten, 5000 anerkannte Flüchtlinge vom Festland zu holen. Gerade erst hat das Land Berlin angeboten, 1500 Hilfesuchende aufzunehmen. Es gibt leere Container, es gibt Unterkünfte. Und nicht nur Viren, auch Solidarität kann ansteckend sein. Wenn jemand vorangeht.

Wie viel müsste Baden-Württemberg aufnehmen, um die Lage zu entspannen?

Wenn große Länder wie Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen jetzt anbieten würden, jeweils 1000 bereits anerkannte Flüchtlinge vom Festland aufzunehmen, würde dies sofort Raum für Familien mit Kindern auf den Inseln schaffen.

Würden andere nachziehen, wenn Deutschland voranginge?

Ich bin überzeugt davon.

Was bedeutet die neue Krise für die Zukunft des europäischen Asylsystems und des gemeinsamen Grenzschutzes?

Wenn nicht passiert, war es das mit der Flüchtlingskonvention. Gelingt es aber, hier eine Katastrophe abzuwenden, besteht eine Chance nach der Coronakrise ein besseres System aufzubauen, dass weiterhin auf dem Respekt der Menschenwürde basiert. Das, was wir bisher hatten, ist jedenfalls zusammengebrochen. 2019 kamen insgesamt nur 120.000 Menschen über das Mittelmeer nach Spanien, Italien und Griechenland, auf einen Kontinent mit 500 Millionen, und trotzdem war die EU permanent überfordert.

Was hat nicht funktioniert?

Dass de facto jeder, der die EU erreicht, hier blieb, weil kein Land in der Lage war, irgendwann schnell zurückzuschicken. Stattdessen setzen Regierungen auf Abschreckung durch schlechte Behandlung, oder gaben das Asylrecht ganz auf. Akzeptiert man jahrelang, dass Migranten ohne Verfahren mit Gewalt über Grenzen zurückgestoßen werden, wie in Ungarn, Kroatien oder auch Griechenland, wird das irgendwann zur offiziellen Politik.

Welche Folgen hat das für die Akzeptanz in der Gesellschaft?

Damit Menschenrechte nicht nur auf dem Papier existieren, braucht es gesellschaftlichen Rückhalt. Den kann es geben, wenn man zeigt, dass Kontrolle und Respekt für Menschenwürde sich nicht ausschließen, auch wenn man sich dafür anstrengen muss. Zivilisation ist anstrengend.

Wie kann ein besseres System aussehen?

Der Kerngedanke der Flüchtlingskonvention ist, niemanden in die Gefahr zurückzustoßen. Dazu brauchen wir ein System, in dem schneller entschieden wird, wer diesen Schutz braucht. Und dazu müssen wir Drittstaaten helfen, die selbst viele Flüchtlinge aufgenommen haben, wie wir das vier Jahre lang mit den Syrern in der Türkei taten. Ein Asylsystem darf kein Luxus sein, auf den man unter Druck verzichtet.

Deutschland und sieben andere EU-Länder sind bereit, mindestens 1.600 Minderjährige und andere besonders Schutzbedürftige von den griechischen Inseln aufzunehmen. Hilft das überhaupt?

Es ist gut gemeint, aber in der heutigen Lage geht es darum 35.000, darunter tausende Kinder, von den Inseln zu evakuieren. Und so schnell und unbürokratisch eine Katastrophe zu vermeiden.

Die vor mehr als zwei Wochen von den Innenministern getroffene Absprache ist bislang nicht umgesetzt. Woran scheitert es?

Es gibt noch keinen konkreten Plan. 1600 Minderjährige sollen zunächst auf das Festland kommen, wohin genau, wird zwischen Athen und der Kommission gerade besprochen. Doch dabei wird nicht ernsthaft diskutiert was passiert, wenn morgen in Lesbos ein Corona-Fall auftaucht. Wird dann um diese Männer, Frauen und Kinder eine Mauer gebaut? Dass diese Frage nicht offen gestellt und beantwortet wird, ist das dramatische Scheitern dieser Tage. Und das könnte unsere Generation noch lange als Albtraum verfolgen.