Hubert Aiwanger hat sich entschuldigt. Denkt er zumindest. Seit Bayerns stellvertretender Ministerpräsident von Verfehlungen eingeholt wird, die 36 Jahre zurückliegen, schaltet er auf Abwehr. Auch sein jüngster Auftritt, bei dem er von einer „aufrichtigen Entschuldigung“ sprach, kann die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit nicht ausräumen. Wenn es um einen derart schwerwiegenden Vorwurf wie Antisemitismus geht, erwartet die deutsche Öffentlichkeit Aufklärungsbereitschaft, Aufrichtigkeit und Selbstreflexion. Aiwanger hat in seiner knappen Erklärung all dies nicht geliefert. Stattdessen: Ein Bedauern mit Wenn und Aber, Selbstmitleid, Vorwürfe gegen alle, die Klarheit haben wollen. So rettet man sein Amt nicht, so verspielt man es.

Das könnte Sie auch interessieren

Der Eindruck, hier mangle es einem Spitzenpolitiker an Ehrlichkeit, verfolgt Aiwanger, seit das judenfeindliche Flugblatt aus Schülertagen aufgetaucht ist. Er hat sich diesen Verdacht selbst eingebrockt. Über Dummheiten aus Jugendtagen ließe sich vielleicht hinwegsehen, auch wenn der Wisch in seiner ganzen Böswilligkeit und Menschenverachtung starker Tobak ist. Viele Jugendliche suchen die Provokation, den Tabubruch, um Erwachsene herauszufordern und zu verletzen, zumal wenn sie sich selbst verletzt fühlen. Und einen stärkeren Tabubruch als die Verspottung des Holocaust konnte es damals und kann es auch heute nicht geben. Aus gutem Grund muss auch ein Minderjähriger für solche Entgleisungen geradestehen. Seinen späteren Lebensweg sollten sie nicht zerstören – sofern er als Erwachsener mehr Reife zeigt.

Aiwanger darf bei so einem schweren Vorwurf keine Fragen offen lassen

Im Fall Aiwanger geht es daher nicht um das Verhalten eines 17-Jährigen, sondern um das Verhalten eines 52-Jährigen – der zudem als Vize-Regierungschef eines der mächtigsten deutschen Bundesländer repräsentiert. Niemand in einer solchen Position kann bei diesen Vorwürfen Fragen offen lassen und Zweifel abblocken. Der Freie-Wähler-Chef tut es trotzdem. Unstrittig ist: In seiner Schultasche wurde damals ein widerwärtiges Pamphlet gefunden, das sein Bruder verfasst haben soll. Warum trug er es bei sich? Wollte er es weiterverbreiten? Oder wollte er Exemplare, die bereits im Umlauf waren, aus dem Verkehr ziehen, wie sein Bruder in einer nachgeschobenen Erklärung behauptet? Die Antworten liegen ebenso im Nebel wie die Geschichten über Hitler-Grüße, Judenwitze und Führerparodien, die frühere Mitschüler jetzt, Jahrzehnte später, ausgraben.

Das könnte Sie auch interessieren

Von Aiwanger selbst kommt dazu nichts Erhellendes. Was er zu bieten hat, sind Unschuldsfloskeln, Erinnerungslücken und der Vorwurf, er solle mit einer Schmutzkampagne vor der Wahl in Bayern fertiggemacht werden. Und da ist dann noch ein Satz, der dem Minister quasi nebenbei herausrutschte. Er sei „seit dem Erwachsenenalter kein Antisemit“, so Aiwanger. Vorher also schon? Unbeabsichtigt beantwortet er in wenigen Worten alle 25 Fragen, die Markus Söder ihm gestellt hat.

Aiwangers Verrenkungen machen alles nur schlimmer

Solche Verrenkungen machen alles nur schlimmer und nichts besser. Wieder einmal bestätigt sich die alte Erkenntnis, dass Politiker meist nicht über ihre Fehltritte stolpern, sondern über den Umgang mit ihnen. Aiwanger mag ein Populist und rechter Sprücheklopfer sein. Aber er ist nach allem, was man weiß, kein Nazi. Gerade deswegen müsste er die Kritik und die Sorge, die aus ihr spricht, an sich heranlassen. Antisemitismus ist kein Kavaliersdelikt, kein Dummer-Jungen-Streich, keine Jugendsünde. Aus ihm spricht immer eine Androhung zur Vernichtung. Jedes judenfeindliche Plakat bei rechtsextremen Aufmärschen, jede Hassparole und erst recht jeder Anschlag auf Synagogen unterstreicht diese Drohung. 80 Jahre nach dem Holocaust untergräbt der Antisemitismus in all seinen Facetten das Vertrauen der Juden in diesem Land, dass sie hier willkommen sind und in Sicherheit leben können.

Das könnte Sie auch interessieren

Taktik statt Haltung

Im Fall Aiwanger muss es in erster Linie um dieses Sicherheitsversprechen gehen und erst danach um das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland oder des Freistaates Bayern. Der Freie-Wähler-Chef erweckt mit seinen empathiefreien Entschuldigungsversuchen nicht den Anschein, dass ihm diese Dimension des Problems bewusst ist. Der Eindruck ist ein anderer: Hier kämpft ein Politiker mit allen Anzeichen der Verzweiflung um seinen Posten. Für ihn geht es in dieser Auseinandersetzung vor allem darum, seinen Stuhl zu retten. Alles, was er sagt, und alles, was er verschweigt, dient diesem Ziel. Daher riecht auch alles an seiner Verteidigung nach Taktik, nicht nach Haltung. Wie will Aiwanger als stellvertretender bayerischer Ministerpräsident unter diesen Umständen künftig bei Gedenkveranstaltungen in Dachau auftreten? Wie will er den Angehörigen der Opfer in die Augen schauen? Das Ende dieser Karriere ist unausweichlich.