Früher ging Navonel Glick dorthin, wo es Katastrophen gab. Wo Städte überschwemmt wurden und Kinder Hunger litten. Als Krisenhelfer war das sein Beruf. Doch diesmal tat er das Gegenteil. Nachdem Israel am 7. Oktober von der Hamas attackiert wurde, trafen seine Frau Patrizia und er die schwierige Entscheidung, das Land vorerst zu verlassen.
„Seit unsere Töchter geboren wurden, dreht sich unser Leben um ihre Sicherheit“, sagt Glick. „Außerdem arbeitet meine Frau als Max-Planck-Minerva-Katastrophenforscherin in Regionen um den Gazastreifen, die verwüstet wurden. Solange der Krieg andauert, kann das Projekt nicht fortgesetzt werden.“ Jetzt arbeitet sie am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Möggingen und er kümmert sich um die zehn Monate alten Zwillinge. Seit Januar lebt die Familie in Moos auf der Höri.
Für humanitären Aktivismus ausgezeichnet
Navonel Glick, gebürtiger Israeli, hat mit seinen 37 Jahren schon viel von der Welt gesehen. Viel Gutes und viel Schlimmes. Er erzählt ruhig und bedacht. Aufgewachsen zwischen Israel, Frankreich und Indien, legten seine Eltern ihm das Reisen in die Wiege.
„Sie wollten die Weisheiten anderer Religionen verstehen“, erzählt er. „Mein Vater wurde Rabbiner und das religiöse Leben wurde zu Hause bis zu einem gewissen Grad eingehalten.“ Manchmal sei er von anderen Kindern dafür verspottet worden. Trotzdem habe er eine glückliche Kindheit gehabt. Heute bezeichnet sich Glick als liberaler Jude.
Schlimmstes Massaker an Juden seit dem Holocaust
Zu seinen Wurzeln hat er eine große Verbundenheit. „Israel ist eine hoch entwickelte und technologisierte Demokratie“, sagt er. „Der Staat hat immer großen Wert auf die Sicherheit jedes einzelnen Bürgers gelegt. Dadurch waren die meisten von uns vor dem 7. Oktober fast vollständig von den Realitäten des Konflikts abgeschirmt.“
Das Vertrauen in die militärische Stärke Israels und die hocheffektiven Verteidigungsmechanismen sei groß gewesen. Wie viele habe er jedoch auch an regierungskritischen Protesten teilgenommen. Bis der Tag kam, der alles veränderte.
„Der 7. Oktober 2023 war das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust“, sagt Glick. Erst eine Woche vor dem terroristischen Überfall der Hamas war er mit seiner Familie nach Jerusalem gezogen. „Am frühen Morgen wurden wir von Sirenen geweckt und rannten mit unseren Töchtern ins Treppenhaus, der Luftschutzkeller war noch geschlossen“, erzählt er. „Weil Jerusalem aber nicht oft beschossen wird, nahmen wird das Ganze zunächst nicht ernst. Doch die Sirenen hörten nicht auf und jedes Mal, wenn wir in unsere Wohnung zurückgingen, sahen wir schockierendere Bilder in den Nachrichten.“
Wo bleibt die Armee?
Er habe geglaubt, die Armee würde bald eintreffen und das Grauen beenden. Doch das Töten hörte nicht auf. „Im Laufe des Tages wurde uns klar, dass dies etwas ganz anderes war“, berichtet Glick. „Etwas, das schrecklicher war als unsere schlimmsten Albträume.“ Bei dem Massaker wurden mehr als 1200 Menschen getötet und rund 240 Geiseln nach Gaza verschleppt.

Sechs Monate ist der Schicksalstag inzwischen her. Von seinen Freunden und Familienangehörigen hört er, wie das Leben in Israel sich verändert hat. „Der andauernde Krieg, die Spannung und der Schock sind eine große Belastung“, berichtet er. „Einerseits liegt alles auf Eis – Familien leben in provisorischen Unterkünften, viele wurden zum Militärdienst einberufen und ihre Partner müssen zu Hause die Stellung halten.“
Andererseits müsse das Leben irgendwie weitergehen. „Aber wenn du Menschen kennst, die ermordet oder entführt wurden, gehst du dann zu einer Party? Darf man Spaß haben, während so viele leiden? Das ist ein furchtbarer, lähmender Zustand.“
Er fordert mehr Druck auf die Hamas
„Ich trauere um die leidenden Zivilisten auf beiden Seiten“, sagt Glick. „Ich bin empört über die Taten der Hamas und gleichzeitig untröstlich, dass Israel keine andere Lösung kennt, als in den Gazastreifen einzumarschieren.“
Die Appelle für einen bedingungslosen Waffenstillstand versteht er allerdings nicht. „Ich will, dass die Kämpfe enden“, erklärt er. „Aber welchen Zweck hat eine Nation, wenn nicht, ihre Zivilisten vor solch barbarischen Angriffen und der Ausrottung ihres Volkes zu schützen?“ Israel brauche mehr denn je Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger.
Glick kritisiert, dass Hilfsgelder für Gaza an der falschen Stelle ankommen. „Die Hamas finanziert damit ihren Terror, anstatt in Bildung, Gesundheit und Schutz der Bevölkerung zu investieren. Das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser wird gezielt als Waffe eingesetzt.“ Von der internationalen Gemeinschaft erwarte er, die Terroristen zur Rechenschaft zu ziehen und mehr Druck auf die Hamas auszuüben.
Fühlt er sich sicher? Glick zögert
Was Glick schockiert, ist nicht die weltweite Empörung über Israels Operationen in Gaza. „Es ist die Unfähigkeit vieler, das Leid beider Seiten zu erfassen“, sagt er. „Leute reißen Poster israelischer Kinder von den Wänden. Ich würde niemals die Bilder von leidenden Kindern in Gaza abreißen.“
Der massive Anstieg antisemitischer Gewalt auf der ganzen Welt erschrecke ihn. Im Allgemeinen habe er sich sein Leben lang überall sicher gefühlt. „Heute zögere ich bei dieser Aussage“, sagt Glick. „Der zunehmende Hass beunruhigt mich zutiefst. Alle Menschen verdienen ein Leben in Würde und Sicherheit.“
Den Bodensee hat die Familie bereits lieben gelernt. „Die Menschen sind wirklich freundlich“, findet Glick. „Unsere Freizeit verbringen wir damit, die Hügel, Wälder und Wanderwege zu erkunden. Wir warten sehnsüchtig auf die Pilzsaison!“ Für seine Töchter wünsche er sich, was sich alle Eltern wünschen – „Sicherheit, Gesundheit, Liebe und viel Raum, um als Menschen zu wachsen.“