Als sich der Automobilzulieferer Kern-Liebers eine Autostunde nördlich von Shanghai niederließ, starteten die Baden-Württemberger mit sechs Mitarbeitern. Rund 30 Jahre später empfängt Simon Veit, ein hemdsärmeliger Manager-Typ mit festem Handschlag, vor einem hochmodernen Produktionswerk, in dem rund 800 Angestellte auf einer Fläche von über fünf Fußballfeldern arbeiten.
„Bis etwa 2018 etwa ging alles mit chinesischer Geschwindigkeit voran“, sagt Regionalleiter Veit. Zuletzt jedoch hätten sich die Probleme in China gehäuft: neue Steuerregelungen, die Corona-Pandemie und schließlich ein weltweiter Chip-Mangel. „Seither ist der Krisenmodus zum Normalzustand geworden“, sagt der gebürtige Schramberger.
500 deutsche Firmen in Taicang
Seine Worte spiegeln die ambivalente Haltung wider, die viele Unternehmer in Taicang empfinden. Kern-Liebers hat sich 1993 als erster Mittelständler in der damals neu gegründeten Industriezone angesiedelt – und damit unverhofft den Startschuss zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte gesetzt: Mittlerweile gibt es in der ostchinesischen Satellitenstadt knapp 500 deutsche Firmen, darunter viele „hidden champions“ wie der Werkzeugmaschinen-Hersteller Trumpf oder der Automobilzulieferer Schaeffler.
Der Standortvorteil von Taicang lag auf der Hand: Die Arbeitslöhne waren günstiger als in den großen Metropolen, gleichzeitig liegt die internationalen Finanzstadt Shanghai nur 50 Kilometer entfernt.
Sauerkraut und Fachwerkhäuser in Taicang
Dass sich Taicang stolz als „Heimat für deutsche Unternehmen“ bezeichnet, spiegelt sich längst im Stadtbild wider: In der Rothenburg-Uferpromenade haben die Behörden eine Altstadt-Imitation inklusive Fachwerkhäusern und Springbrunnen errichtet. Beim angrenzenden Wirtshaus „Schindlers Tankstelle“ wird Eisbein und Sauerkraut serviert, Brezeln gibt es bei der beliebten Bäckerei „Brotecke“. Und jedes Jahr veranstaltet das „German Center Taicang“ ein Oktoberfest mit Weißbier und Brathendl.
Die Affinität der Chinesen zur deutschen Kultur fußt auf einer ökonomischem Grundlage: Die Unternehmen aus dem fernen Europa brachten schließlich auch einen neuen Wohlstand nach Taicang. Fuhr die Lokalbevölkerung noch in den 90ern ausschließlich Fahrrad, werden die schachbrettartigen Straßen mittlerweile von importierten PKWs gesäumt. Von alten Mietskasernen zogen die Leute schließlich in moderne Hochhaussiedlungen und verbringen ihre Freizeit in großzügigen Parkanlagen und neonbeleuchteten Einkaufszentren. Taicang und Deutschland, das schien lange Zeit eine nicht endende Erfolgsgeschichte.
Null-Covid-Politik Chinas hat Folgen
Doch mittlerweile ist von der Euphorie vergangener Tage im chinesischen Klein-Schwaben nur mehr wenig übrig. Die drakonische Null-Covid-Politik hat dazu geführt, dass von den einst 3000 Deutschen seit Beginn der Pandemie nur ein Drittel übergeblieben sind. Bei den meisten handelt es sich zudem um Pendler, die zwar in Taicang arbeiten, doch in Shanghai wohnen.
Die deutsche Heimat in China existiert mittlerweile vor allem auf dem Papier: Nicht nur im öffentlichen Stadtbild findet man kaum noch Deutsche, sondern auch in den Büros. Viele der „hidden Champions“ sind mittlerweile vollständig lokalisiert und kommen ohne Auswärtige aus der Zentrale aus.
Hinzukommt eine Politik, die China vom verheißungsvollen Markt zum Problemkandidaten werden ließ. Präsident Xi Jinping bremste mit unvorhersehbaren Regulierungswellen und einer Rückkehr der ideologischen Kontrolle den Wachstumsmotor der Volksrepublik empfindlich ab. Und seine aggressiven Drohungen gegen den demokratischen Inselstaat Taiwan stellen für ausländische Unternehmen längst ein existenzielles Risiko dar: Was passiert, wenn die Volksbefreiungsarmee eine Invasion startet?
„Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, wie wir im Notfall reagieren sollten“, sagt auch Simon Veit von Kern-Liebers. Gleichzeitig betont der Manager, dass man im Alltag wenig von den politischen Spannungen mitbekäme. Stattdessen sorgt man sich vielmehr um die Personalsituation: Es sei mittlerweile schwierig geworden, loyale und gut ausgebildete Fachkräfte zu bekommen und diese auch langfristig zu halten. Doch dass sich die internationale Politik unweigerlich immer wieder in den Alltag drängt, ist offensichtlich.
Eine Festrede wurde zensiert
Vor wenigen Monaten reiste Hans-Jochem Steim, dessen Urgroßvater Kern-Liebers 1888 gründete, zum 30-jährigen Jubiläum der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit nach Taicang. Steim, der auch Ehrenbürger der Stadt ist, sollte dabei eine Festrede halten, die jedoch kurzerhand von der Regierung zensiert wurde.
Eine scheinbar harmlose Passage, die sich möglicherweise als Anspielung auf Xi Jinpings Loyalität zu Wladimir Putin interpretieren ließ, musste der deutsche Unternehmer streichen: „Kriegerische Auseinandersetzungen helfen nicht, die Lebensverhältnisse zu verbessern. Nur im gegenseitigen Vertrauen wächst das Klima für den Erfolg, den wir alle haben wollen. Aggression darf kein Mittel der Politik sein“. Deutlicher lässt sich die Paranoia der chinesischen Politik kaum vermitteln.
Wer im imposanten Gebäude der Stadtregierung nach den neuen Verhältnissen fragt, erntet allerdings nur betretenes Schweigen. Im 21. Stock des Glasbaus, der einen atemberaubenden Blick über die Parkanlagen und Apartmentsiedlungen von Taicang freigibt, möchte man sich keinen kritischen Fragen stellen – weder zur neuen China-Politik der Bundesregierung, noch zu den Spannungen mit den USA oder gar der Kritik an Xi Jinping. Es ist offensichtlich, dass in China längst ein rauerer Wind weht, der sich irgendwann auch gegen die Gäste aus Deutschland richten kann.