Es gibt Momente, da hört man leise in sich hinein. So zum Beispiel am Ende des vergangenen Jahres, dem zweiten Corona-Jahr. Da sagte manch innere Stimme: Lächle und sei froh – es könnte schlimmer kommen. Und die Menschen lächelten und waren froh, und es kam schlimmer. Es ist Krieg.

Am 24. Februar überfiel der russische Diktator Wladimir Putin mit seinen Streitkräften das Nachbarland Ukraine. Erbarmungslos pflügten seine Soldaten und Banden durch Städte und Dörfer, ermordeten Zivilisten, zerbombten ganze Landstriche. Ein entfesselter Krieg, nur knapp 2000 Kilometer von uns gelegen.

Es ist kein Krieg in einer weit entfernten Welt, von dem man nur am Rande aus den Nachrichten erfährt. Sondern es ist ein Konflikt, dessen Auswirkungen auch bei uns zu spüren sind.

Der Krieg in der Ukraine tobt auch kurz vor Weihnachten unvermindert weiter. Hier versammeln sich in Butscha Angehörige und Freunde bei ...
Der Krieg in der Ukraine tobt auch kurz vor Weihnachten unvermindert weiter. Hier versammeln sich in Butscha Angehörige und Freunde bei der Beerdigung eines 33-jährigen Soldaten, der im Einsatz starb. | Bild: Felipe Dana/AP/dpa

Die Zahl der in Deutschland Zuflucht suchenden Menschen liegt höher als in den großen Fluchtjahren 2015 und 2016. Und obwohl die Belastungen an vielen Orten groß sind, werden die Fremden voller Tatkraft aufgenommen und versorgt. Es gibt einen großen Konsens darüber, dass es unsere Pflicht und Verantwortung ist, Menschen in Not zu helfen – und sei es nur aus Nächstenliebe.

Es fühlt sich gut an, in einem Land zu leben, dass sich zu Hilfe und Menschlichkeit bekennt und dafür auch an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht.

Mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine lebten Mitte des Jahres bei uns, und nur die Hälfte der einheimischen Bevölkerung glaubt, dass die Geflüchteten irgendwann in ihre Heimat zurückkehren werden. Und dennoch wird Ukrainern viel Zuspruch und Zuwendung und wenig Argwohn entgegengebracht. Das ist beeindruckend, aber warum ist das eigentlich so?

Wenn es vielleicht der letzte Kuss ist

Vielleicht, weil Ukrainer mehr oder weniger als Teil unseres Kulturkreises betrachtet werden, jedenfalls mehr als Menschen aus Afghanistan oder Gambia. Vielleicht, weil viele von ihnen sehr schnell eine Arbeit aufnehmen. Vielleicht ist es aber auch deshalb so, weil ein Krieg auf dem europäischen Kontinent die Zerbrechlichkeit des Friedens sichtbar macht und eigene Positionen und Gedanken infrage stellt. Weil die anstrengende, aber doch sehr heile Welt über Nacht zerbersten kann.

Viel mehr als bei anonymen Konflikten irgendwo anders beginnen wir, darüber nachzudenken, wie es sein muss, wenn ein Vater sich von seinen Kindern verabschiedet, um in den Krieg zu ziehen. Wenn eine Frau ihren Mann zum Abschied küsst und nicht weiß, ob es der letzte Kuss war. Wenn Leid greifbar wird, ermordete Angehörige beerdigt werden müssen.

Wir müssen um den Frieden ringen

Mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung befindet sich derzeit auf der Flucht, mehr als 103 Millionen Menschen werden gewaltsam aus ihren Heimatländern vertrieben. Diese Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, und es ist nicht absehbar, dass es besser werden wird. Grob jeder dritte Flüchtling ist ein Kind, ein kleines Menschenwesen, das ohne ein sicheres Zuhause in der Heimat aufwachsen muss. Man kann verzweifeln bei dem Gedanken, dass die Menschheit nicht klüger wird.

Seit mehr als 77 Jahren herrscht Frieden in unserem Land, historisch gesehen eine einmalige Ausnahme, so kostbar und alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Um diesen Frieden müssen wir ringen.

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Um den Frieden zu ringen heißt wieder, militärisch zu erstarken und Partner militärisch zu ertüchtigen. Um den Frieden zu kämpfen heißt aber auch, nach innen zu handeln, wenn sich das soziale Gefüge, das unser Land zusammenhält, verändert. Der Zulauf von Fremden in unser Land wird hoch bleiben, die Bundesrepublik ist und bleibt ein Sehnsuchtsland für viele arme Menschen. Vielleicht auch wegen guter Sozialleistungen.

Vor allem aber, weil es bei uns sicher ist, die Menschen ein wärmendes Dach über dem Kopf und regelmäßig etwas zu essen haben. Und es Arbeit gibt, von der man leben kann, und etwas übrig bleibt für die Angehörigen in der Heimat. Wir müssen kämpfen um die Integration der neuen Nachbarn, um die gleichen Rechte für alle – aber auch um die Pflichten, die sich daraus ergeben.

Der Krieg als barbarisches Gegenstück zum Frieden zeigt uns, dass ein gutes Miteinander erkämpft sein will und jeder von uns dazu einen Teil beitragen muss.