Man nehme die Einwohnerzahl von Tuttlingen – rund 36.600 – und lege noch rund 2000 oben drauf. Was dabei herauskommt? Die Zahl an Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine, die Stand 12. Dezember in Kitas und Schulen in Baden-Württemberg unterrichtet und betreut werden. Eine Menge von der Einwohnerzahl einer stattlichen großen Kreisstadt, fast 12.000 Kinder unter sechs Jahren und dazu knapp 28.000 Kinder und Jugendliche an öffentlichen und privaten Schulen.
Noch vor Jahresfrist waren diese Kinder und Jugendlichen in keinem Bedarfs- und Stellenplan vorgesehen. Jetzt müssen sie einfach im Alltagsbetrieb mitorganisiert werden, ohne dass über Nacht auch entsprechend mehr Lehr- oder Erziehungskräfte vom Himmel gefallen wären. Und dies in einem System der frühkindlichen und schulischen Bildung, das nach den Corona-Jahren auch ohne die Flüchtlingskinder schon an der Grenze zur Überlastung oder darüber hinaus war.
Den Menschen in Baden-Württemberg bereitet dieser Punkt – die Sorge vor der Überlastung des Bildungssystems – im Rahmen der Flüchtlingsthematik auch mit die größten Sorgen. Dies geht aus den Ergebnissen des neuesten BaWü-Checks hervor, der Umfrage der baden-württembergischen Tageszeitungen mit dem Institut für Demoskopie Allensbach. Thema der repräsentativen Umfrage diesmal: das Meinungsklima im Land rund um den Komplex Flüchtlinge.
Fast die Hälfte der Menschen im Südwesten (48 Prozent) hält demnach die Schulen durch den Zustrom der ukrainischen Kinder für „völlig überfordert“, und weitere 42 Prozent gehen davon aus, dass die Einrichtungen dies nur mit großen Schwierigkeiten bewältigen können. Nur ganz wenige Menschen (6 Prozent) glauben, dass die Integration dieser Kinder für das System ein Klacks ist und ohne Weiteres bewältigt werden kann.
Aber nicht nur, was die Kinder und Schulen betrifft, ist die Herausforderung für Baden-Württemberg auf allen Ebenen in diesem Jahr ungleich größer, als es sie im Jahr 2015 auf dem bisherigen Höhepunkt des Flüchtlingszustroms war. Nie zuvor strömten mehr Menschen nach Baden-Württemberg, alle Erstaufnahmeeinrichtungen und die vorläufigen Unterbringungen in den Landkreisen sind an der Auslastungsgrenze, und nie zuvor standen Landkreisen, Städten und Gemeinden weniger Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Bei den Verantwortlichen vor Ort wächst die Verzweiflung, wohin mit den Menschen – Turn- und Sporthallen müssen wieder hergerichtet, Container- und Zeltunterkünfte eingerichtet werden. Und ungeklärt ist nach wie vor die Frage, wer für die Unterbringung am Ende wie viel bezahlen muss – daran konnte auch der von Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) vergangene Woche einberufene Flüchtlingsgipfel auf politischer Ebene nichts ändern.
Doch geht auch hiervon die Botschaft aus, die sich auch im BaWü-Check wiederfindet: Die Menschen müssen aufgenommen werden, und möglich ist das nur als gesamtgesellschaftlicher Kraftakt.
Das wahre Ausmaß machen die aktuellen Zahlen aus dem zuständigen Justizministerium deutlich. 101.000 Flüchtlinge kamen 2015, auf dem Höhepunkt der Welle, insgesamt nach Baden-Württemberg – und im Jahr 2022 waren es bislang allein 143.000 Geflüchtete aus der Ukraine (Stand: 12. Dezember). Dazu kommen im laufenden Jahr in Baden-Württemberg bislang mit rund 25.700 Asylsuchenden aus anderen Herkunftsländern bereits deutlich mehr als in jedem Jahr seit 2017 – und das Jahr ist noch gar nicht zu Ende.
Die Asylsuchenden kommen am häufigsten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus der Türkei. Dazu kommen rund 3300 weitere Geflüchtete, die bislang im Rahmen einer humanitären Aufnahme in Baden-Württemberg Unterschlupf fanden. Am Ende des Jahres könnte sich also die Zahl der Menschen, die Baden-Württemberg aufnimmt, stramm Richtung 200.000 bewegen.
Das Justizministerium ist entsprechend vorsichtig. „Belastbare Prognosen sind weder in Bezug auf den Zugang von Asylsuchenden noch für den Zugang von Geflüchteten aus der Ukraine möglich“, teilt ein Sprecher auf die Frage mit, worauf sich Land und Leute im Südwesten denn noch einstellen müssen im Verlauf des Winters.
„Da die Infrastruktur in der Ukraine systematisch zerstört wird, bereitet sich Baden-Württemberg auf ein Wiederansteigen der Flüchtlingszahlen aus der Ukraine vor.“ An den Standorten in Freiburg, Sindelfingen und Meßstetten seien daher zusätzliche Unterbringungskapazitäten für 2.500 Menschen geschaffen worden.
Das Erstaunliche dabei ist aber: Das Meinungsklima gegenüber Geflüchteten ist gänzlich anders als 2015, wie der BaWü-Check aufzeigt. Viele Menschen in Baden-Württemberg merken erstens von der Unterbringungsdramatik und überhaupt der Anwesenheit so vieler Geflüchteter direkt eher wenig, wie sie angeben.
Und für 43 Prozent der Baden-Württemberger steht außer Frage und ist es eine moralische Pflicht, den ukrainischen Geflüchteten zu helfen. Kritischer sieht dies nur, wer in direkter Nähe von Geflüchteten lebt oder aber fürchtet, die Menschen könnten dauerhaft im Land bleiben.
Ungeachtet der schwierigen Lage bei der Unterbringung ist aber mit 73 Prozent Zustimmung eine satte Mehrheit dafür, auch weiter Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Ein Drittel (34 Prozent) der Bürger ist sogar dafür, unbürokratisch weiter eine unbegrenzte Zahl von Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. Und ein Drittel (33 Prozent) der Baden-Württemberger wäre sogar bereit, bei sich zuhause für einen vorübergehenden Zeitraum Flüchtlinge aufzunehmen.
Eine Aussage allerdings, deren Gehalt sich dem Realitätscheck erst noch stellen müsste. Gut möglich, dass den Kommunen bald gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als darauf zurückzukommen.