Was passiert eigentlich, wenn Deutschland angegriffen wird? Was bis vor wenigen Jahren kaum vorstellbar schien, ist spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ein realistisches Szenario geworden. Und noch einmal mehr, seitdem laut darüber gesprochen wird, dass Russland sich für weitere Kriege rüstet.
Hauptberuflich mit dieser Möglichkeit von Krieg befasst ist seit etwa anderthalb Jahren Generalleutnant André Bodemann. Er erstellt mit einem Team von 150 Leuten den sogenannten Operationsplan Deutschland.
Wir sind nicht mehr im Frieden
Die 1000 Seiten sind zwar geheim in ihren Details, über die groben Linien aber informiert der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr seit einigen Wochen die Öffentlichkeit. Am Dienstag sprach er im voll besetzten Schwörsaal in Ravensburg, nicht nur zahlreiche Vertreter der Blaulicht-Organisationen aus der Umgebung lauschten andächtig.
Erste Erkenntnis des Abends: Für André Bodemann befinden wir uns bereits nicht mehr im Frieden. Schon heute sei Deutschland Bedrohungen ausgesetzt: Falschnachrichten, die von russischen Trollen gestreut werden, Cyberangriffen, die „jeden Tag“ auf Bundesregierung, Bundeswehr und kritische Infrastruktur verübt werden, Ausspähungen der Wirtschaft, Sabotageakten wie die Löcher im Zaun zum Wasserwerk der Bundeswehrkaserne von Köln-Wahn, oder ganz aktuell die Kappung der Unterseekabel in der Ostsee.
„Da ist eine Menge los“, kommentiert Bodemann trocken. Und der Generalleutnant erwartet, dass die Angriffe noch zunehmen. „Hybride Phase“ nennt er das, was noch kein Kriegsfall ist, aber auch nicht mehr richtig Frieden. Was auch ein Problem darstellt: Denn solange Frieden herrscht, darf die Bundeswehr im Innern nur unterstützend eingreifen, zum Beispiel bei Naturkatastrophen Sandsäcke schleppen. Dabei wird sie demnächst deutlich mehr in Erscheinung treten.
Die Bundeswehr stößt an ihre Grenzen
Bis Anfang des Jahres 2029 muss Deutschland bereits in der Lage sein, Nato-Truppen durch das Bundesgebiet zu leiten. Sollte Russland irgendwann gegen einen Nato-Staat Krieg anzetteln, rechnet man mit einem Angriff auf die Ostflanke des Nato-Gebiets im Baltikum. Deutschland wäre in diesem Fall doppelt herausgefordert: Zum einen wird erwartet, dass die Bundeswehr mit dem größten Teil des Heeres die Ostfront verteidigen wird. Zum andern dürfte Deutschland als Land in der Mitte Europas im Bündnisfall zur Drehscheibe für Nato-Truppen werden.
Konkret bedeutet das Transport von Gütern und Waffen, aber auch von 100 Tonnen schweren Panzern kreuz und quer durch die Bundesrepublik – viele Pfeile auf Bodemanns Präsentation weisen auf der Deutschlandkarte von West nach Ost. Gleichzeitig ist im Kriegsfall davon auszugehen, dass Kriegsversehrte zurückkehren und viele Flüchtlinge kommen. Das Ergebnis auf der Wand hinter dem General ist ein Schaubild, das beide Bewegungen kombiniert – das perfekte Chaos.
Militärkolonnen, die die rechte Autobahnspur blockieren
In der ersten Stufe geht es ab Januar erstmal „nur“ darum, Nato-Truppen Routen zuzuweisen und Infrastruktur für die Einrichtung von Convoy Support Centern, also militärische Rastplätze, wo Truppen auch Wochen und Monate verweilen können. „Mehr als 100.000 Mann würden durch Deutschland durchgehen“, sagt Bodemann.
Ob das tatsächlich passiert, ist unklar. Aber die Bevölkerung müsste sich an den Anblick von Militärkolonnen, die die rechte Autobahnspur blockieren, gewöhnen. „Während für die Bevölkerung Frieden ist, die Leute in den Urlaub an die Ostsee fahren oder zum Fußballspiel nach Leipzig.“

Damit dann jeder weiß, was er wann wie wo und wozu zu tun hat, hat Bodemann ein Jahr lang in abgeschirmten Räumen mit 150 Mitarbeitern unterschiedlicher Institutionen einen Plan ausgetüftelt. Um Ostern hat man die 1000 Seiten dem Generalinspekteur der Bundeswehr vorgelegt, wirklich abgeschlossen ist der O-Plan allerdings nicht, er wird fortwährend ergänzt.
Bodemann braucht Blaulichtorganisationen
Klar ist allerdings heute schon, dass das, was die Bundeswehr an Soldaten aufweist, nicht ausreichen wird, um alle Aufgaben zu erfüllen. Auch eine Art Wiederbelebung der Wehrpflicht in Form eines freiwilligen Fragebogens wird daran so schnell nichts ändern. Die Bundeswehr setzt daher stark auf Reservisten, Heimatschutzverbände, aber auch auf die Mithilfe der Blaulicht-Organisationen.
Das bedeutet nicht, dass Feuerwehren oder Rotes Kreuz sich bewaffnen sollen, aber eben bei der Logistik und der medizinischen Versorgung helfen. Oliver Surbeck, Kreisbrandmeister im Landkreis Ravensburg, bittet Bodemann um möglichst klare Ansagen, was vorbereitet werden müsse.
Deutschland hat sich Jahrzehnte lang in Sicherheit gewiegt, Bunker wurden abgeschafft, die Bundeswehr kurz gehalten. Mit der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende fließen zwar nun 100 Milliarden Euro ins Heer, schon jetzt ist aber klar, dass das nicht ausreichen wird, um Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (ebenfalls SPD) die Anforderung auf den Punkt bringt.
Reservisten darf er nicht zum Einsatz einziehen
Bodemann, den Macher des O-Plans, plagen dabei noch deutlich banalere Sorgen: Dass er Reservisten derzeit nur für Übungen einberufen darf, zum Beispiel, nicht aber zum Einsatz, da ja der Kriegsfall nicht eingetreten ist. Dass Brücken stark genug und Tunnel groß genug sein müssen, um solche Lasten zu überstehen.
Aber auch Zollbestimmungen und Gefahrgutverordnungen, die für einen präventiven Aufmarsch der Nato-Truppen ein Hindernis darstellen, unterschiedliche Bestimmungen für Heeresbewegungen in jedem Bundesland – ob das alles rechtzeitig zu klären ist? „Vielleicht sind wir auch schon zu spät dran“, sagt Bodemann, der sich selbst als Berufsoptimist bezeichnet.
Friedensaktivisten stören den Vortrag
Unterbrochen wird der Generalleutnant am Dienstagabend von drei Friedensaktivisten, die ihre Plakate ausrollen und dann laut deklamierend Bodemanns Vortrag störten, bis sie von Polizisten nach draußen geleitet werden. Zu einem Austausch, den der Generalleutnant anbietet, sind sie nicht bereit. Wer Frieden wolle, solle nicht den Krieg vorbereiten, lautet eine Forderung von ihnen.
Bodemann betont seinerseits, dass es ihm gerade darum gehe, den Frieden zu sichern. Panikmache weist er von sich. Deutschland, der Westen sollen sich möglichst stark aufstellen, um Russland klarzumachen, dass ein Angriff auf die Nato-Ostflanke ein Fehler wäre. Ziel des Operationsplans sei also, dass dieser möglichst nie den Kriegsfall erlebt.
„Glauben Sie mir, die meisten von uns waren im Einsatz“, sagt er. „Wir wollen keinen Krieg, wir haben schon erfahren, was das bedeutet.“