Nichts wie weg, das eigene Leben, das Leben der Kinder in Sicherheit bringen. Mit diesen Gedanken machten sich vor sechs Monaten, kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine viele Menschen auf den Weg. Die meisten erstmal ins Nachbarland Polen.

Einige, wie der 18-jährige Evgeniy Parfonov, gelangten mehr oder weniger zufällig nach Südbaden: Evgeniy kam mit einem Hilfskonvoi des Reiseveranstalters Kögel nach Radolfzell. SÜDKURIER-Reporter Marcel Jud, der den Hilfstransport begleitete, kam mit Evgeniy im Bus ins Gespräch.

Alina Hutarova dagegen kam ganz gezielt nach Süddeutschland beziehungsweise in die Schweiz, nach Kreuzlingen. Denn dort lebt ihre Schwester AnnaVollert. Schwager Kai holte sie damals an der ukrainisch-polnischen Grenze ab.

Wir haben damals und heute mit beiden gesprochen und wollten wissen: Wie geht es ihnen? Wie hat sich ihr Blick auf den Krieg verändert? Worauf stellen sie sich ein?

„Jetzt sind wir schon sechs Monate da und der Krieg ist immer noch nicht zu Ende“

Gruppenbild mit Oma: (von links) Viktoria, Anna mit Liliana und Alina mit Mischa und Mia Anfang März auf dem Sofa in Kreuzlingen.
Gruppenbild mit Oma: (von links) Viktoria, Anna mit Liliana und Alina mit Mischa und Mia Anfang März auf dem Sofa in Kreuzlingen. | Bild: Angelika Wohlfrom

Alina Hutarova, 32, aus dem Kiewer Vorort Chotyanovka ist mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter kurz nach Kriegsbeginn geflüchtet. Ihren Mann Sergej musste sie zurücklassen – er darf das Land als Mann im wehrfähigen Alter nicht verlassen, zum Militär wurde er bislang jedoch nicht eingezogen.

Hutarova war zunächst bei ihrer Schwester Anna Vollert in Kreuzlingen untergekommen, diese arbeitet an der Uni Konstanz. Beim Treffen mit dem SÜDKURIER Anfang März schwankt die Familie noch zwischen Erleichterung, in Sicherheit zu sein, dem Schock über den Krieg und der Angst um die zurückgelassenen Angehörigen – für Alinas und Annas Oma zum Beispiel war die Flucht zu beschwerlich.

Die Zukunft ist völlig unklar: Werden sie zwei Wochen oder zwei Jahre bleiben, werden die Kinder am Ende hier zur Schule gehen, oder ist der Albtraum schnell vorbei – keiner kann das einschätzen.

Inzwischen leben Alina, die beiden Kinder Mischa und Mia mit Alinas und Annas Mutter Viktoria in Wien. Das Gespräch findet telefonisch und auf deutsch statt; Alina, die in Kiew eine deutsche Schule besucht hat, spricht die Sprache sehr gut.

„Ich habe in der Ukraine bei einer österreichischen Firma gearbeitet – und die haben für uns eine Wohnung besorgt. So sind wir Anfang April nach Wien gekommen. In der Wohnung meiner Schwester hätten wir auf die Dauer nicht bleiben können. Wir haben nach Möglichkeiten gesucht – und dann kam das Angebot, nach Wien zu kommen.

Ich bin der Firma dafür sehr dankbar. Wir haben eine Zwei-Zimmer-Wohnung, das genügt uns. Mein Sohn Mischa (5) besucht hier den Kindergarten. Er hat schon sehr viele deutsche Wörter gelernt. Und meine Mutter macht einen Deutschkurs, der ist für Flüchtlinge kostenlos.

Meine kleine Tochter Mia (ein Jahr und zehn Monate) ist zuhause. Aktuell arbeite ich nicht, aber wenn wir länger bleiben, werde ich arbeiten gehen.

Wie lange wir hierbleiben werden, wissen wir nicht. Noch immer nicht. Als wir im Februar aus der Ukraine geflohen sind, dachte ich noch, nach zwei Wochen könnten wir wieder zurück. Aber jetzt sind wir schon sechs Monate da und der Krieg ist immer noch nicht zu Ende.

In den ukrainischen Nachrichten lese ich, dass der Krieg im Herbst oder Winter zu Ende sein könnte. Keiner weiß es, aber ich hoffe, dass es so kommt.

Die beiden Schwestern Alina Hutarova (links) und Anna Vollert (rechts) sitzen Anfang März mit ihren Kindern auf einer Parkbank in ...
Die beiden Schwestern Alina Hutarova (links) und Anna Vollert (rechts) sitzen Anfang März mit ihren Kindern auf einer Parkbank in Kreuzlingen und genießen die Sonne. | Bild: Angelika Wohlfrom

Ich vermisse meinen Mann. Er muss in der Ukraine bleiben, nicht einmal besuchen darf er uns, obwohl er nicht kämpft. Im Moment kämpfen nur Männer, die militärisch ausgebildet sind. Er lebt in unserem Haus in der Nähe von Kiew. Es ist nicht zerstört worden, anders als viele andere Häuser in der Umgebung.

Mein Mann hat eine kleine Baufirma. Er hat ein wenig Arbeit, repariert die zerstörten Häuser, die er mit aufgebaut hat. Auch er vermisst uns sehr, er sieht nicht, wie die Kinder wachsen – das ist unvorstellbar. Wir telefonieren jeden Tag, auch per Videochat.

Trotzdem sind wir sehr froh, dass wir hierbleiben dürfen. Im Moment hätte ich große Angst, mit den Kindern nach Kiew zurückzukehren. Hier sind wir in Sicherheit.

In der Ukraine stehen die meisten Menschen weiter hinter Präsident Selenskyj, aber die Zustimmung ist nicht mehr so groß wie am Anfang. Es sind so viele Menschen gestorben! Glücklicherweise ist niemand von meinen Freunden oder Verwandten darunter.

Mein Eindruck ist: Fast alle in der Ukraine möchten weiterkämpfen, aber alle sehnen sich auch nach Frieden. Ich glaube, dass die Ukraine gewinnt – aber ich weiß es nicht. Irgendwann wird Selenskyj mit Putin reden.

Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg endet und wir meinen Mann wiedersehen!“

„Ich versuche, hier in Deutschland ein Leben zu starten“

Evgeniy Parfonov, 18, ist im März mit Großmutter, Mutter und seinem kleinen Bruder aus der ukrainischen Stadt Slowjansk über Polen nach ...
Evgeniy Parfonov, 18, ist im März mit Großmutter, Mutter und seinem kleinen Bruder aus der ukrainischen Stadt Slowjansk über Polen nach Radolfzell geflohen. (Aufnahme vom 20. April 2022) | Bild: Marcel Jud | SK-Archiv

Evgeniy Parfonov, 18, aus Slowjansk in der Ostukraine ist Mitte März mit Mutter, Großmutter und kleinem Bruder nach Radolfzell gekommen, wo sie noch immer wohnen. Später kam seine Freundin nach, die alleine geflohen war.

Aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung war Evgeniy Parfonov nicht zum Militärdienst eingezogen worden. Unweit von Slowjansk verläuft derzeit die Kriegsfront. Von einst über 100.000 Einwohnern sind rund 20.000 geblieben. Der Krieg hat Strom- und Wasserleitungen zerstört.

Das Gespräch fand auf Wunsch von Evgeniy Parfonov auf Englisch statt, seine Aussagen wurden später ins Deutsche übertragen und in einem Zitat zusammengefasst.

„Wenn ich an Slowjansk denke, werde ich wirklich traurig. Mein Onkel ist noch dort, er wollte nicht gehen, sagte, er will das Haus seiner Schwester, meiner Mutter, und sein eigenes verteidigen. Viele, die geblieben sind, haben das aus Sorge um ihren Besitz getan. Aber das sind alles nur materielle Dinge.

Was bringt es, zu bleiben und zu sterben? Alle sollten aus dieser gefährlichen Situation heraus – auch, damit die ukrainischen Soldaten ihre Arbeit machen können. Das habe ich auch meinem Onkel gesagt. Vor ein paar Tagen meinte er jetzt, dass er Slowjansk verlassen werde.

Die Großeltern meiner Freundin wollten Slowjansk ebenfalls lange nicht verlassen. Sie sind beide alt und können kaum noch gehen. In dem Haus, wo sie ihre Wohnung haben, sind sie inzwischen allein. Alle anderen Mieter sind geflohen. Wir versuchen jetzt mit den Eltern meiner Freundin, die in der westlichen Zentralukraine leben, Helfer zu organisieren, die sie herausholen.

Mein Vater ist Berufssoldat. Er ist direkt an der Kriegsfront im Einsatz. Das letzte Mal, als ich mit ihm telefonieren konnte, habe ich im Hintergrund viele Schüsse gehört. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Aber ich vertraue auf seine Professionalität. Und ich versuche, noch mehr zu arbeiten und mich abzulenken.

Ich habe inzwischen eine Stelle in einem Hotel und Restaurant, als Hausmeister, in der Hausreinigung und an der Spüle in der Küche. Ich arbeite 100 Prozent. Wenn im September der Online-Fernunterricht der Akademie in der Ukraine wieder startet, werde ich tagsüber arbeiten und abends lernen.

Ich habe noch ein Jahr, dann erhalte ich nach insgesamt drei Jahren das Diplom. Es ist eine Ausbildung in Wirtschaft und Finanzen. Für Hobbys wie Fußballspielen habe ich jetzt keine Zeit mehr, aber das ist Okay, ich habe auch neue Freunde auf der Arbeit kennengelernt.

Meine Freundin hat jetzt einen Minijob in einem Restaurant und meine Mutter, die früher Chemielaborantin war, arbeitet bereits seit Längerem im Reinigungsteam einer Fabrik. Sie hat bis zu den Sommerferien auch einen Integrationskurs besucht und macht im Herbst weiter, um Deutsch zu lernen.

Für sie ist es nicht so einfach wie für mich. Sie kann das Gelernte weniger anwenden, da sie vor allem alleine arbeitet, während ich ständig Kontakt zu anderen habe und Deutsch sprechen muss.

Ich habe deshalb angefangen, zu Hause mit meiner Familie abends Deutsch zu sprechen, damit sie es auch lernen. Also, wir mixen dann Deutsch und Ukrainisch.

Evgeniy Parfonov, 18, (3. von links) ist mit Großmutter Liudmyla Klochok, 63, Mutter Viktoriia Parfonova, 39, und seinem kleinen Bruder ...
Evgeniy Parfonov, 18, (3. von links) ist mit Großmutter Liudmyla Klochok, 63, Mutter Viktoriia Parfonova, 39, und seinem kleinen Bruder Timur, 2, (von links) aus der ukrainischen Stadt Slowjansk über Polen nach Radolfzell geflohen. Seine Freundin Oleksandra Kusainova, 19, (2. von links) ist später nachgekommen. (Aufnahme vom 20. April 2022) | Bild: Marcel Jud | SK-Archiv

Während ich und meine Mutter arbeiten, kümmert sich meine Großmutter um meinen kleinen Bruder. Noch haben wir für ihn nämlich keinen Kindergartenplatz gefunden. Wir suchen auch eine größere Wohnung, denn Ende August muss meine Freundin aus ihrem jetzigen Zimmer heraus und zieht zu uns.

54 Quadratmeter mit einem Schlaf- und einem Wohnzimmer sind für fünf Menschen doch etwas klein. Und wenn wir eine Wohnung finden, die etwas zentraler liegt in Radolfzell, ist mein Arbeitsweg auch kürzer.

Ich weiß nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird. Von fünf Freunden, die in der Ukraine geblieben sind, konnte ich bisher zwei erreichen. Von den anderen drei weiß ich nicht, wo sie sind. Die Freunde, die ich erreicht habe, fragen mich immer, wann ich zurückkomme. Aber ich gehe im Moment nicht zurück.

Evgeniy mit Großmutter, Mutter und seinem kleinen Bruder bei der Ankunft in Radolfzell Mitte März.
Evgeniy mit Großmutter, Mutter und seinem kleinen Bruder bei der Ankunft in Radolfzell Mitte März. | Bild: Marcel Jud | SK-Archiv

Ich versuche, hier in Deutschland ein Leben zu starten. Hier ist meine Familie sicher, hier kann ich ihr helfen. Wenn ich mein Diplom habe und es in Deutschland anerkannt wurde, ich besser Deutsch kann, dann, denke ich, werde ich in die Ukraine gehen, schauen, wie sie sich verändert hat und wie ich helfen kann.“