„Es gibt oftmals pauschale Aussagen über unsere Arbeit“, sagt Herr Frank. „Für die einen, weil wir zu viel Schutz gewährten. Für die anderen, weil wir unfair zu den Leuten seien.“ Herr Frank ist Reinhard Frank. Er ist ein sogenannter Entscheider beim Bamf, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle Sigmaringen.

Er sitzt in einem Büro in der früheren Graf-Stauffenberg-Kaserne, ein alter Asbestbau aus den 1950ern, drinnen: Backsteinwände in schlecht beleuchteten Fluren, Raufaser in den Büros, dazu Boden aus grauem Funktions-PVC. Auf Franks Schreibtisch stehen zwei Monitore älterer Bauart, auf dem Computer läuft Windows 10, das bald seit zehn Jahren am Markt ist. Die Tastatur ist beige, sie kommt aus einer anderen Zeit.

Die Außenstelle des Bamf in Sigmaringen befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Graf-Stauffenberg-Kaserne.
Die Außenstelle des Bamf in Sigmaringen befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Graf-Stauffenberg-Kaserne. | Bild: Hermann-Peter Steinmüller

Asylanhörungen können ganz unterschiedlich ablaufen

Eine junge Afghanin betritt mit einer Dolmetscherin den Raum, hier findet gleich die Anhörung über ihr Asylbegehren statt. Das heißt: Ihre Personalien werden geprüft, sie muss ihren Fluchtweg beschreiben und die Gründe für ihr Schutzbedürfnis. Sie muss möglichst Tatsachen vorbringen, die ihre Schilderungen stützen.

Solche Anhörungen können eine Stunde dauern, manchmal aber auch sieben oder noch länger. Frank sagt: „Je nach Herkunftsland plane ich zwei oder drei Anhörungstermine am Tag ein, manchmal schafft man aber auch nur einen.“ Drei Tage die Woche macht er das, die übrigen zwei braucht er „für weiteren Bearbeitungen“, wie er sagt, das heißt: Recherchen anstellen, Entscheidungen treffen.

Sachbearbeiter wie Reinhard Frank sind in aller Regel für Menschen aus bestimmten Ländern zuständig, denn sie müssen die Umstände vor Ort gut kennen, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. In Afghanistan ist die Situation eine andere als in Somalia. Frank manövriert ziemlich souverän durch die politische Lage am Hindukusch.

Gerichtsverfahren ziehen den Prozess in die Länge

Im Jahr 2023 haben die Mitarbeitenden des Bamf 351.915 Asylanträge bearbeitet, 329.120 davon waren Erstanträge wie jener der Afghanin. Knapp sieben Monate brauchten sie im Durchschnitt für einen Antrag, so geht es aus der Asylgeschäftsstatistik der Behörde hervor.

Diese Zahl gibt aber nur die Verfahrensdauer beim Bamf selbst wieder, häufig wird gegen Bescheide geklagt, was dann noch einmal dauern kann: Gerichtsverfahren bei Asylklagen dauerten 2023 fast zwei Jahre, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht.

Für Anträge von Menschen aus Afghanistan brauchten die Bamf-Entscheider im ersten Halbjahr 2023 durchschnittlich 9,5 Monate. Die Anerkennungsquote ist eine der höchsten: Als Gesamtschutzquote nennt das Bamf für vergangenes Jahr 74,3 Prozent, der Begriff ist aber ein wenig irreführend – darin sind nämlich auch formelle Entscheidungen ohne inhaltliche Prüfung gefasst, zum Beispiel, wenn ein anderes EU-Land zuständig ist. Bereinigt man diese Quote, gelten laut dem Mediendienst Integration 99 Prozent der Afghanen als schutzbedürftig.

Die Chancen für die junge Frau stehen gut

Die Chancen für die junge Frau im Büro von Reinhard Frank stehen also ziemlich gut. Dass die Taliban vor allem gegen Frauen, zumal solche mit universitärer Bildung wie in diesem Fall, brutal vorgehen, ist hinlänglich bekannt. Frank protokolliert gerade eine Antwort der Antragstellerin, die Dolmetscherin hört ihm dabei konzentriert zu, korrigiert manchmal, wenn in der Übersetzung etwas verloren gegangen ist.

Schild am Eingang des Bamf in Sigmaringen.
Schild am Eingang des Bamf in Sigmaringen. | Bild: Jann-Luca Künßberg

Der Blick der Antragstellerin wandert dabei durch den Raum, sie versteht ja nicht, was da gerade über ihre Schilderungen geredet wird. Erst nach der Anhörung übersetzt die Dolmetscherin das Protokoll des Entscheiders, das die Frau dann noch einmal lesen und unterschreiben muss.

Eine gruselige Vorstellung: Manchmal lachen Entscheider und Dolmetscherin, etwa wegen eines Missverständnisses. Und als Antragstellerin sitzt man in einem grauen Büro in einem fremden Land vor diesen Leuten, die über die eigene Zukunft entscheiden, und versteht nur Bahnhof.

Sprachliche Feinheiten sagen etwas über die Herkunft aus

Dolmetscher erscheinen in den Akten aus Sicherheitsgründen nur noch als Nummern, erklärt Frank. Bekannt ist: Mancher abgelehnte Asylbewerber gibt seinem Übersetzer die Schuld, so sollen Anfeindungen vermieden werden. In diesem Fall ist das eher unwahrscheinlich, die Dolmetscherin muss die junge Frau nur manchmal in ihrem Redefluss bremsen, damit sie mit dem Übersetzen hinterherkommt.

Gerade in ländlicheren Regionen wie Sigmaringen aber sind Übersetzer rar, die sich mit den Feinheiten der gefragten Sprachen auskennen. Dass künstliche Intelligenz das bald übernehmen kann, ist eher unwahrscheinlich, hier geht es auch um den Transport menschlicher Regungen, das Heraushören bestimmter Regiolekte, was eine Fluchtgeschichte mehr oder weniger glaubhaft machen kann – schließlich sagt die Sprache viel über die Herkunft aus. Der iranische Sprachstamm, zu dem das in Afghanistan verbreitete Dari gehört, kennt um die 50 verschiedene Sprachen mit wiederum eigenen Dialekten.

Wo ist der zweite Reisepass abgeblieben?

In der Anhörung geht es nun hin und her wegen eines verschwundenen nordamerikanischen Reisepasses, mit dem die Antragstellerin wohl gereist ist. Sie liefert keine schlüssige Erklärung, wo der abgeblieben ist. Wahrscheinlich hat sie mit den falschen Papieren auch Instruktionen bekommen: Nach dem Flug gleich wegwerfen. An ihrer afghanischen Nationalität und ihrer politischen Gefährdung im Land der Taliban gibt es aber keine Zweifel, sie hat sie zahlreiche Urkunden und Belege dabei.

Die Atmosphäre ist dann auch freundlich. Die junge Frau antwortet schnell und sicher, wirkt dabei nicht, als hätte sie sich ausgedacht, was sie da erzählt. Im Laufe der Anhörung wird ihre Stimme immer fester.

Echtheit von Beweisen kann kaum überprüft werden

Frank diktiert in sein Protokoll, die Antragstellerin habe Fotos „von nicht unerheblichen Verletzungen“ vorgebracht, sie sollen nach einem Angriff der Taliban entstanden sein. An diesem Beispiel stellt sich die große Herausforderung dieses Asylsystems dar: Die Asylsuchenden sollen Beweise für ihre Verfolgung mitbringen, deren Echtheit kaum geprüft werden kann.

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Ob die Taliban für die sichtbaren Verletzungen verantwortlich sind oder jemand ganz anderes, lässt sich nicht nachvollziehen. Andererseits wird jemand in akuter Bedrohungslage kaum Beweismittel sichern und mit auf die Flucht nehmen – da ist anderes Gepäck wichtiger.

Wer flüchtet schon mit einem Koffer voller Beweise?

Ein besonders komplizierter Teil der Anhörungen: Schlepperbanden instruieren Flüchtlinge mittlerweile ziemlich gut, was sie in ihren Verfahren sagen sollen, das gehört zu ihrer Dienstleistung dazu. Aus Sicherheitskreisen wird gar von ausgedruckten Anleitungen berichtet, die in Transitländern wie der Türkei verteilt werden. Das führt aber dazu, dass auch Menschen, deren wahre Geschichte völlig ausreichend für einen Anspruch auf Asyl ist, manchmal vorgestanzte Antworten geben, die ihre Glaubwürdigkeit beschädigen. Das zu entschlüsseln, ist Aufgabe der Sachbearbeiter.

Frank wirkt entspannt in dem Gespräch, er macht das schon lange und man könnte wohl über ihn sagen: Er kennt seine Pappenheimer. Was nicht heißt, dass er die Menschen ihm gegenüber nicht ernst nimmt. „Viele haben einfach was auf dem Herzen“, sagt er, da werde so eine Anhörung zur Gratwanderung.

Wichtig zu betonen: Weil das Asylrecht ein individuelles ist, wird jeder Einzelfall geprüft, verallgemeinern lässt sich da wenig bis nichts. An dem Fall in Sigmaringen ist besonders, dass junge Frauen aus Afghanistan selten alleine kommen, von den Fluchtrouten auf dem Landweg gibt es immer wieder Berichte von Misshandlungen etwa an der bulgarischen Grenze, die sie abhalten dürften. Diese Antragstellerin kam mit einem falschen Pass per Flugzeug, was sich viele Afghanen nicht leisten können.

Die Anhörung hat durchaus einen dramaturgischen Bogen. Als Frank die junge Frau fragt, was sie glaubt, das sie bei Rückkehr in ihre Heimat erwarten würde, merkt man, dass das Gespräch sich seinem Ende neigt. Sie antwortet: Sie hätte Angst vor den Taliban, die sie schon zuvor heimgesucht haben.

Nun heißt es: warten

Wann sie mit einem Ergebnis rechnen könne, fragt die Antragstellerin zum Schluss, natürlich. Fast vier Stunden inklusive einer kurzen Pause hat ihr Termin nun gedauert. „Sobald wie möglich, aber genau kann ich Ihnen das leider nicht sagen. In sechs Wochen können Sie eine Sachstandsanfrage schicken“, sagt Reinhard Frank. Die Dolmetscherin übersetzt das, für Sachstandsanfrage verwendet sie aber den deutschen Begriff – für manche Beamtenvokabel gibt es wohl nicht immer eine Übersetzung.

Die junge Frau muss nun kurz auf das übersetzte Protokoll warten, es wären noch Korrekturen möglich, anschließend müssen alle unterschreiben. Dann beginnt die Wartezeit für ihr Ergebnis.

Ihr Fall wirkte einigermaßen aufgeräumt. Manche Betroffene müssen aber auch über Dinge sprechen, über die sie vorher noch nie mit irgendwem gesprochen haben – ob sie davon traumatisiert sind oder nicht, spielt in der Anhörung zumindest inhaltlich keine Rolle. Man muss sich nackt ausziehen, bekommt seine Kleider aber auch nicht wieder, wenn man fertig ist, so hat es ein Mann aus Kamerun mal beschrieben.

Reinhard Frank hat wohl nicht ganz Unrecht, wenn er seine Arbeit bisweilen pauschal beurteilt sieht. So einfach ist es aber nicht: Der Entscheider hält sich an die Gesetze, die nicht jedem Einzelfall gerecht werden können. Sie ermöglichen weder allzu viele Abweisungen, noch ermöglichen sie Schutz für alle, die ihn vielleicht brauchen. Wie hat Frank es selbst gesagt? Es ist eine Gratwanderung.