Vor einem Jahr hat sich die Welt verändert. Die USA haben ihre Truppen auf Afghanistan abgezogen – die wacklige Demokratie brach binnen Tagen in sich zusammen, ebenso wie die afghanische Armee. Die Taliban übernahmen erneut die Macht.

Seither regieren die beiden Taliban das Land – antiwestlich, auf der Grundlage der Scharia, blutig. Frauen werden unterdrückt, politische Gegner, Regimekritiker und Journalisten verhaftet, misshandelt, getötet. Ehemalige Soldaten der afghanischen Armee stehen auf der Abschussliste.

Oberleutnant Khodadad Ataiy: Der 26-Jährige hatte bei der Bundeswehr eine Ausbildung gemacht, um in Afghanistan der Armee beizutreten. ...
Oberleutnant Khodadad Ataiy: Der 26-Jährige hatte bei der Bundeswehr eine Ausbildung gemacht, um in Afghanistan der Armee beizutreten. Für das Schutzprogramm kommt er trotzdem nicht in Frage. Nun muss er um sein Leben bangen – und das zweier Familien. | Bild: Khodadad Ataiy

Einer von ihnen ist Khodadad Ataiy. Er war als Übersetzer für die Bundeswehr tätig, bei hochrangigen Treffen involviert. In Afghanistan bleiben war für ihn keine Option. Doch die deutschen Behörden wollen dem Offizier, der seine Ausbildung unter anderem in Donaueschingen machte, nicht helfen, obwohl er als Soldat der afghanischen Armee Übersetzer für die Bundeswehr tätig war.

Von Herat aus machte er sich trotzdem auf den gefährlichen Weg nach Kabul, in der Hoffnung, einen der Evakuierungsflüge zu bekommen, die zuletzt auch ohne größere Kontrollen Flüchtende ausflogen. Doch er und seine Familie, seine Frau und sein damals zwei Jahre alter Sohn, schafften es nicht auf das Flughafengelände.

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Für Ataiy und seine Familie bedeutete der verpasste Rettungsflug die gefährliche Rückkehr nach Herat. Es gelang, ohne aufzufliegen. Doch Ataiy wurde gesucht – ohne Einkommen konnte er sich nicht lange versteckt halten. Versuche, mit den deutschen Behörden in Kontakt zu treten, scheiterten.

Der fluchtartige Abzug der Bundeswehr, bei dem unzählige Schutzbedürftige zurückgelassen wurden, ist seit Juli Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Bundestags.

Der afghanische Soldat Khodadad Ataiy ist mit seiner Familie von Herat nach Kabul gekommen – in der Hoffnung, auf einem der Flüge ...
Der afghanische Soldat Khodadad Ataiy ist mit seiner Familie von Herat nach Kabul gekommen – in der Hoffnung, auf einem der Flüge der Bundeswehr nach Deutschland ausreisen zu können. Das Bild entstand am 26. August 2021. | Bild: Khodadad Ataiy

Zuflucht im Iran auf Zeit

Aus Angst, aufzufliegen und weil er in Herat untertauchen musste, also kein Geld verdienen konnte, floh Ataiy mit Hilfe von Schleusern und seinem letzten Ersparten schließlich mit seiner Frau und ihrem zwei Jahre alten Sohn in den Iran. Dort lebt er aktuell in der Nähe von Teheran in dem Vorort Jajrud.

Arbeit hat Ataiy in einer kleinen Werkstatt gefunden, schreibt er dem SÜDKURIER über WhatsApp. Es sei nicht viel, aber es reiche gerade so zum Leben, sagt er. „95 Prozent meines Lohns gebe ich für Essen aus“, rechnet er vor.

In der Vorstadt von Teheran, Jajrud, lebt Khodadad Ataiy inzwischen mit seiner Frau und seinem fast drei Jahre alten Sohn. Er arbeitet ...
In der Vorstadt von Teheran, Jajrud, lebt Khodadad Ataiy inzwischen mit seiner Frau und seinem fast drei Jahre alten Sohn. Er arbeitet in einer kleinen Werkstatt – es reicht gerade so für Lebensmittel, sagt er dem SÜDKURIER. | Bild: Khodadad Ataiy

Ataiy will immer noch nach Deutschland. Doch Versuche, mit der deutschen Botschaft in Teheran in Kontakt zu treten, scheiterten ebenso. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, schreibt er dem SÜDKURIER.

Viele Ortskräfte inzwischen in Deutschland

Nach Angaben der Bundesregierung sind inzwischen 17.200 der circa 23.300 Ortskräfte der Bundeswehr in Deutschland angekommen. Wöchentlich kommen etwa 200 weitere an – mit Charterflügen aus dem pakistanischen Islamabad.

Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte sieht diese Zahlen allerdings kritisch: „Alle, die vor 2013 für die Bundeswehr tätig waren, sind nach wie vor nicht Teil des Schutzprogramms“, sagt Lucas Wehner, Ansprechpartner des Netzwerks in Südbaden.

Er geht von weiteren 10.000 Menschen aus, die schutzbedürftig sind. Die Regeln besagen aber, dass Betroffene innerhalb von zwei Jahren ihre Schutzbedürftigkeit anzeigen müssen. Schon deshalb fielen viele Afghanen durchs Raster. Trotzdem laufen sie Gefahr, von den Taliban gefasst und gefoltert, oder sogar getötet zu werden.

Das Netzwerk hat mit Hilfe von Spenden selbst 334 frühere Ortskräfte und ihre Familien evakuiert, die berechtigt waren, nach Deutschland zu kommen, wie Wehner berichtet. Doch durch die strengen Vorgaben der Bundesregierung würden immer wieder Familien auseinandergerissen. Gerade volljährige Kinder – etwa 18-jährige Mädchen – dürften nicht mit ausreisen und würden zurückgelassen. „Die werden natürlich zwangsverheiratet unter den Taliban“, fürchtet Wehner.

Frauen ohne Rechte

Vollverschleierung ist wieder Pflicht: Frauen warten an einer Verteilstelle in Kabul auf Lebensmittelrationen, die von einer humanitären ...
Vollverschleierung ist wieder Pflicht: Frauen warten an einer Verteilstelle in Kabul auf Lebensmittelrationen, die von einer humanitären Hilfsorganisation aus Saudi-Arabien verteilt werden. | Bild: Ebrahim Noroozi

Die harten Regeln der Scharia wurden unter den Taliban schnell wieder durchgesetzt. Frauen dürfen nicht mehr ohne Vollverschleierung und der Begleitung eines männlichen Verwandten aus dem Haus.

Arbeit ist nahezu Männersache, Universitäten dürften Frauen nur noch unter erschwerten Bedingungen besuchen, weiterführende Schulen für Mädchen wurden bis auf wenige Ausnahmen geschlossen, im Untergrund sind unter großer Gefahr für die Lehrkräfte zahlreiche Mädchenschulen entstanden, wie unter anderem die „Zeit“ berichtete.

Hinzu kommen Zwangsverheiratungen von Minderjährigen. Oft auch, weil die Familien – etwa Witwen mit mehreren Kindern, ihre übrigen Kinder sonst nicht mehr durchbringen können. Die Mitgift bringt die Familie zumindest zeitweise durch.

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Hilferufe aus Afghanistan

Bis heute erhält auch das Patenschaftsnetzwerk Zuschriften und Bitten um Hilfe – auch von jungen Frauen, berichtet Wehner. Eine von ihnen habe ihm Bilder geschickt, von ihrem ermordeten Vater. Sie habe Angst um ihr eigenes Leben, aber sie war nie für die Bundeswehr tätig. Wehner kann nichts tun.

Fälle wie diese sind psychisch schwer auszuhalten, sagt er ganz offen. Er verweist auf das UNHCR, andere Hilfsorganisationen. Vielen bleibt nur der Versuch der illegalen Einreise nach Deutschland. Gerade wurden zwei Afghanen an der Schweizer Grenze von Thayngen von der Polizei entdeckt, versteckt in der Ladefläche eines LKW.

Im Fall von Ataiy sieht Wehner ohnehin schwarz: „Da wird nichts mehr passieren“, fürchte ich. Zwar habe es in einigen Fällen Unterstützung gegeben, aber die gesetzten Richtlinien ließen wenig Spielraum zu. Das Netzwerk habe versucht, sich für ihn einzusetzen: „Das hat leider nicht geklappt“, sagt Wehner, der von dem Fall persönlich betroffen ist.

Khodadad Ataiy lebt inzwischen in der Nähe von Teheran, der iranischen Hauptstadt. In Afghanistan konnte der frühere Offizier der ...
Khodadad Ataiy lebt inzwischen in der Nähe von Teheran, der iranischen Hauptstadt. In Afghanistan konnte der frühere Offizier der afghanischen Armee nicht bleiben. Die Taliban suchen noch immer nach Soldaten wie ihm, sie werden gefangen genommen, gefoltert oder getötet. | Bild: Khodadad Ataiy

Verantwortlich fühlt sich für Einzelfälle wie jenen von Ataiy niemand, kritisiert Wehner. Grund dafür: Ataiy hatte immer einen Vertrag mit der afghanischen Armee, auch wenn er als Übersetzer für die Bundeswehr tätig war. Rein juristisch betrachtet bestand also kein Arbeitsverhältnis mit der Bundeswehr.

Ohne Zustimmung der deutschen Behörden, ihn in das Schutzprogramm aufzunehmen, ist die Reise nach Islamabad für Ataiy sinnlos. Doch eine Rückkehr nach Afghanistan ist für den 26-Jährigen ebenso ausgeschlossen. Er hört immer wieder von früheren Soldaten der afghanischen Armee, die verfolgt, gefoltert und getötet werden.

Die Familie seines verstorbenen Bruders ist in Herat zurückgeblieben. Für die Flucht in den Irak hat das Geld nicht gereicht. „Es geht ihnen gut“, sagt Ataiy. Auch wenn ihr Leben unter den Taliban schwierig geworden ist.

Seit der Machtübernahme der Taliban stürzt die Landeswährung, der Afghani, in bodenlose Tiefe. Schon im Januar lag die Inflationsrate bei 40 Prozent. Durch die Ukrainekrise und die damit verknüpften gestiegenen Lebensmittelpreise hat sich die Lage noch verschlimmert.

Wirtschaft am Boden

Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden. Das Land ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, mehr als je zuvor. Pandemie und Dürre haben schon 2021 zu größeren Fluchtbewegungen aus dem Land geführt, wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in einem Länderbericht zusammenfasst. 60 Prozent der Bevölkerung können sich demnach nicht mehr selbst versorgen.

Allein 2021 investierte die Bundesregierung 600 Millionen Euro in humanitäre Hilfe vor Ort. Nach einem schweren Erdbeben im Juni mussten die Taliban um internationale Hilfe bitten, um nach Überlebenden zu suchen und die Toten zu bergen.

Aiman al-Sawahiri, Führer der Terrororganisation Al-Kaida, ist unlängst bei einem Drohnenangriff der USA getötet worden. Die ...
Aiman al-Sawahiri, Führer der Terrororganisation Al-Kaida, ist unlängst bei einem Drohnenangriff der USA getötet worden. Die Terrororganisation steht in Verbindung mit den regierenden Taliban. | Bild: Anonymous

Die Macht des Terrors scheint indes manifestiert. Nicht zuletzt, weil die Taliban von der Terrororganisation Al-Qaida unterstützt werden. Unmittelbar nach deren Machtübernahme wurden sie von Al-Qaida beglückwünscht. Dass die Verbindungen gepflegt wurden, zeigen die Umstände der Tötung von Al-Qaida-Anführer Aiman al-Sawahiri durch eine US-Drohne auf der Terrasse eines Hauses, das dem afghanischen Innenminister gehört.

Vor den Schergen des Terrorregimes ist Ataiy im Iran zwar vorerst in Sicherheit. Doch seine Aufenthaltserlaubnis läuft in drei Monaten aus. „Was danach passiert, weiß ich nicht“, sagt er. Er hat den Traum, nach Deutschland zurückkehren zu können, noch nicht aufgegeben: „Ich verlasse mich auf mein Glück.“