„Wir alle spüren ja, dass die Großstädte, die Ballungsräume jetzt der Schauplatz sind, an dem sich zeigt, ob wir die Pandemie in Deutschland unter Kontrolle halten können, so wie uns das jetzt ja monatelang gelungen ist – oder ob uns diese Kontrolle entgleitet.“ Es sind die Worte von Kanzlerin Angela Merkel noch vor dem Wochenende, die die seit Tagen stark steigenden Neuninfektionen einordnen. Doch woran liegt es, dass Großstädte und Ballungszentren offenbar stärker betroffen sind?

In Baden-Württemberg gibt es neun Großstädte: Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Heilbronn, Ulm, Pforzheim und Reutlingen. Tatsächlich zeigen inzwischen auch einige dieser Stadtkreise erhöhte Inzidenzen, also der Anzahl der in den vergangenen sieben Tagen neu gemeldeten Fälle pro 100.000 Einwohner: In Ulm, Pforzheim und Heilbronn liegt die Inzidenz inzwischen über dem kritischen Wert von 35 Infizierten pro 100.000 Einwohnern. In Stuttgart und dem angrenzenden Landkreis Esslingen liegen die Werte bereits über 50 beziehungsweise über 70.
Höhere Infektionsgefahr?
Wie lässt sich das erklären? Christiane Wagner-Wiening, stellvertretende Referatsleiterin für Gesundheitsschutz und Epidemiologie am Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg sagt dazu dem SÜDKURIER, das habe mit der Anzahl der möglichen Kontakte der Menschen untereinander, den sogenannten Expositionsmöglichkeiten für den Virus, zu tun: „Je mehr Menschen auf engem Raum zusammen kommen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein infektiöser Infizierter andere Menschen anstecken kann. Dies ist vor allem der Fall, wenn Maßnahmen des Infektionsschutzes wie die sogenannte AHA-Regeln nicht eingehalten werden.“
Aber, so stellt die Expertin klar: „Auch hier spielen die Hintergründe der Infektionsdynamik eine große Rolle. Viele SARS-CoV-2-Infektionen verlaufen, vor allem bei jungen Erwachsenen ohne oder nur mit milder Symptomatik.“ Infizierte seien aber bereits zwei Tage vor Auftreten von Erkrankungszeichen ansteckend. Zeit, in der gerade in Großstädten, wo Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und sich viele auf engem Raum aufhalten.
Was ist mit Familien und Wohngemeinschaften?
Spielen größere Familien oder Wohngemeinschaften eine Rolle? Schon der starke Ausbruch in Italien im Frühjahr ließ Rückschlüsse zu, dass die Haushalte, in denen oft mehrere Generationen und entsprechend mehr Menschen zusammenleben, dazu beigetragen haben, dass sich das Virus schneller ausbreitete. In Großstädten ist der Wohnraum oft knapp, Wohngemeinschaften häufiger. „Größere Familien können im Rahmen der Möglichkeit von Haushaltsübertragungen sicherlich eine Rolle spielen“, sagt eine Sprecherin des Landesgesundheitsamts zwar, aber: „Konkrete Erkenntnisse dazu liegen uns aber nicht vor.“
Auch der Frankfurter Virologe Martin Stürmer, der dort ein Labor leitet und viele Coronatests auswertet, kann das ebenso wenig bestätigen: „Natürlich habe ich viele ausländische Namen bei den Tests, aber auch viele deutsche. Es ist immer einfach, etwas einer bestimmten Gruppe zuzuordnen“, beim Coronavirus wäre das aber „zu einfach“. Zwar „mag der kulturelle Hintergrund eine Rolle spielen, etwa, dass in manchen Familien ein engerer Zusammenhalt existiert. Aber das war es dann auch.“ Das höhere Infektionsgeschehen in Städten hat seiner Einschätzung nach andere Ursachen.
Auch der Soziologe Stefan Kutzner, der sich in seiner Forschung mit dem Thema Migration beschäftigt, sagt, es gebe keinerlei empirische Grundlage dafür, dass Familien mit Migrationshintergrund in Ballungszentren ein Faktor für steigende Infektionszahlen sein könnten. „Das wäre ja, als würde man behaupten, eine deutsche Familie mit vier Kindern stelle ein erhöhtes Risiko dar“, sagt Kutzner. „Im Übrigen, in allen Migrantengruppen zeichne sich bei den jüngeren Generationen sehr eindeutig der Trend zu weniger Kindern ab.“
Clubszene als Problem
Stürmers Einschätzung nach sind in größeren Städten eher Szenarien wie private Feiern, aber auch die größere Clubszene in Ballungsgebieten ein maßgeblicher Faktor. „Die sind dort einfach ausgeprägter als in kleineren Gemeinden. Seiner Einschätzung nach „wird das auch der Hauptgrund“ dafür sein, dass die Infektionszahlen in größeren Städten schneller steigen. Hinzu komme, dass in Großstädten einfach mehr Menschen auf engem Raum unterwegs seien, etwa in Straßen- oder U-Bahnen.

Die Expertin Wagner-Wiening vom Landesgesundheitsamt antwortet ähnlich: „Derzeit finden Ausbrüche im privaten Umfeld, in Arbeitsstätten und Gemeinschaftseinrichtungen statt.“ Die Infektionsherde sind also vielschichtig. „Wichtig hierbei ist, die schnelle Identifizierung und Quarantäne von Kontaktpersonen“, betont Wagner-Wiening.
Gleichzeitig nehmen laut der Expertin aber auch „diffuse Einzelerkrankungen ohne direkten Nachweis der möglichen Exposition“ zu. Soll heißen: Viele Infizierte bleiben unerkannt, weil sie selbst nicht wissen, dass sie das Virus in sich tragen.