Eigentlich dürfte Oleg gar nicht hier sein. Der Mann ist 41, sportlich und offenbar gesund. Eigentlich müsste sich der Ukrainer daheim bereithalten für den Kriegseinsatz, möglicherweise wäre er schon eingezogen worden, vielleicht in einen Panzerabwehrzug, wo er einst seinen Wehrdienst ableistete. Seit der Verhängung des Kriegsrechts ist Männern im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise aus der Ukraine mit wenigen Ausnahmen verboten.
Heikles Thema, über das er nicht mit jedem spricht
Doch seit einem Jahr etwa ist Oleg in Deutschland, im Landkreis Konstanz. Genauer will er nicht werden, Oleg ist auch nicht sein wirklicher Name. Er will unerkannt bleiben, sorgt sich davor, mit seiner Meinung bei anderen Hass auszulösen. Unter seinen Landsleuten spricht er nicht mit allen offen über dieses heikle Thema – darunter sind viele Frauen, deren Männer an der Front kämpfen. Doch er ist beileibe nicht der einzige Ukrainer, der sich dem Zugriff des Staats entzogen hat. Allein in Deutschland sollen sich 200.000 Ukrainer im wehrpflichtigen Alter aufhalten.
Wir unterhalten uns auf Englisch, eine Sprache, die der frühere Verkaufsmanager in einem internationalen Konzern sehr gut beherrscht. Oleg liegt viel an Meinungs- und Pressefreiheit, wie beim Gespräch deutlich wird. Der SÜDKURIER will mit diesem Artikel darstellen, was Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine umtreibt. Die Perspektive Olegs ist subjektiv – manche Behauptung wirft Fragen auf, deshalb haben wir andere Meinungen eingeholt.
In den ersten Tagen für Bürgerwehr registriert
Olegs Blick auf den Krieg hat sich stark verändert seit dessen Beginn. Als die ersten Bomben fielen, war Oleg einer der vielen, die sich bei der Territorialverteidigung Teroborona beworben haben. Die paramilitärische Einheit, eine Art Bürgerwehr, wurde gegründet, um die Bevölkerung zu schützen, inzwischen ist sie Teil der ukrainischen Armee. Zu Beginn des Krieges habe es lange Schlangen gegeben von Männern, die sich in die Listen eintragen ließen, erinnert sich Oleg. Heute gehen der Ukraine die Soldaten aus.
Um seinen eigenen Sinneswandel zu erklären, muss Oleg etwas ausholen: „Wenn mir jemand im Fernsehen erklärt, was ich zu tun habe, dann bevorzuge ich es, erstmal nachzudenken und zu analysieren. Das habe ich gemacht.“ Es ging schließlich nicht um irgendetwas, sondern um eine Entscheidung, an der sein Leben hängt und das Wohlergehen seiner Familie.
„Ich hatte Zweifel und auch Ängste“, sagt Oleg. Sollte er dafür sein Leben riskieren? Was würde aus seiner Familie, wenn er stirbt? Wie würden seine Kinder ohne ihn aufwachsen?
„Moralisch hart“ nennt der 41-Jährige seine Entscheidung. Er traf sie zugunsten seiner Familie. Seine Frau und seine beiden Kinder, sechs und zehn Jahre alt, hatten die Ukraine gleich zu Beginn des Krieges verlassen und waren nach Zwischenstationen im Landkreis Konstanz gelandet.
Etwas Geld, eine Knieverletzung
Auszureisen sei für ihn, trotz Reservistenstatus, nicht schwierig gewesen. Eine Knieverletzung und „etwas Geld“ hätten dafür gesorgt, dass er das Land unbehelligt verlassen konnte. Genauer will er das nicht beziffern, so würden die Dinge in seinem Land eben geregelt.
„Wenn du in der Ukraine etwas bekommen willst und du bist kein Bürgermeister, Richter oder Staatsanwalt, musst du bezahlen.“ Für Oleg gleichzeitig Segen und Fluch: Die Korruption ermöglichte ihm die Ausreise. Sie ist aber auch der Hauptgrund dafür, weshalb er kein Vertrauen hat in die staatlichen Institutionen der Ukraine. „Korruption ist der Krieg, der uns von innen auffrisst“, sagt er.
Oleg zweifelt an Demokratie in seiner Heimat
Dass die Entscheidung nicht zugunsten seines Landes ausfiel, hat viel damit zu tun, wie er seine Heimat sieht. „Hinter den Kulissen hat sich nichts verändert“, ist er überzeugt. Vordergründig herrsche Demokratie, doch tatsächlich würden missliebige Journalisten verfolgt und nach wie vor herrsche Korruption.
Oleg erinnert an Oleksij Resnikow. Der ehemalige Verteidigungsminister musste im September 2023 gehen, nachdem herausgekommen war, dass er für Lebensmittel für die Soldaten völlig überhöhte Preise bezahlt hatte. Nicht der einzige Korruptionsskandal, den das Verteidigungsministerium während des Krieges erschütterte.
Trotzdem verbesserte sich die Ukraine im Korruptions-Ranking von Transparency International im vergangenen Jahr, liegt nun auf Platz 116 weltweit. Während das Land 2013 noch 25 Punkte erhielt, erreicht es inzwischen 33 von 100 Punkten. Dänemark kommt auf 90 Punkte, Deutschland auf 79, Russland auf 28 – ist nach dieser Wertung also noch korrupter als die Ukraine.
Seine Hoffnung auf Selenskyj wurde enttäuscht
Entlassen wurde Resnikow von Wolodymyr Selenskyj. Doch auch der ukrainische Präsident kommt bei Oleg nicht gut weg. Im Westen nimmt man Selenskyj vor allem als mutigen Mann wahr, der sich als ehemaliger Comedian überraschend gut schlägt in dieser katastrophalen Lage; einer, der seinem Volk Kraft gibt, und der nicht müde wird, für sein Land zu bitten.

Auch er habe zuerst auf Selenskyj gehofft, erzählt Oleg. „Selenskyj schien aus anderem Material gemacht als die meisten seiner Vorgänger.“ Im Krieg habe Selenskyj nicht alles schlecht gemacht, seinen Mut, vor Ort zu bleiben, weiß auch Oleg zu schätzen.
Trotzdem: „Er ist kein weiser Politiker.“ Nach außen haben er viel erreicht, nach innen nicht.
Nach Olegs Ansicht spielt Selenskyjs Clique, seine Geldgeber und seine mächtigen Unterstützer, keine gute Rolle. Selenskyj habe gute Ideen für die Ukraine, seine Leute aber seien nur an Macht und Geld interessiert. Dass sich der Präsident von Oligarchen wie seinem früheren Unterstützer Ihor Kolomojskyj distanziert hat, erwähnt Oleg nicht.
Sein Land habe ihn gebeten, zur Armee zu gehen und das System zu verteidigen, nicht das Leben der Menschen. Das System aber sei verdorben. So sieht Oleg es. „Ich werde nicht mein Leben riskieren, um dieses System zu verteidigen.“ Inzwischen dächten viele so, seine Freunde zu Hause in der Ukraine schilderten ihm das.
Korruption, Selenskyj-Clique, verfolgte Journalisten – Experten ordnen Olegs Aussagen ein
Die Ukraine muss mehr Soldaten mobilisieren
Tatsächlich hat die Ukraine Probleme, für ausreichend Nachschub an der Front zu sorgen. 31.000 Soldaten sind nach offiziellen Angaben in den zwei Jahren seit Kriegsbeginn gefallen, Experten gehen von doppelt so vielen aus. Wer noch kann, steht seit über zwei Jahren an der Front.
Soldatenfrauen demonstrieren für die Rückkehr ihrer schwer belasteten Männer – vergeblich. Im gerade verabschiedeten Gesetz zur verstärkten Mobilisierung wurde der Passus gestrichen, der eine Entlassung von Soldaten aus der Armee nach 36 Monaten vorgesehen hatte.

Dafür werden die Strafen für Kriegsdienstverweigerer erhöht. 70.000 sind zur Fahndung ausgeschrieben. Außerdem sind bei der Staatsanwaltschaft nach Informationen der Deutschen Presseagentur über 46.000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubten Entfernens von der Truppe eingeleitet worden.
Mehr als ein Viertel davon entfällt auf das erste Quartal 2024. Anfang April hatte die Regierung die Kriterien für die Wehrpflicht erweitert, schon 25-Jährige können jetzt zu den Waffen gerufen werden.
Dass Oleg nicht bereit ist, sein Leben für sein Land zu riskieren, dürfte auch daran liegen, dass er die Chancen der Ukraine auf Sieg als gering einstuft. Mangel an Waffen, Mangel an Technologie – das sei die Lage der ukrainischen Armee. Die russischen Soldaten hätten einfach von allem mehr als die Ukrainer in ihren Schützengräben.
Die Zeichen der Zeit nicht erkannt?
Den Fehler sieht Oleg nicht bei den westlichen Verbündeten, die nicht liefern, sondern bei der ukrainischen Regierung. Selenskyj habe die falschen Prioritäten gesetzt, denkt Oleg. Von Anfang an habe er militärische Programme gestoppt, stattdessen Geld in Straßenbau und andere zivile Projekte gesteckt.
Oleg wirft der Regierung vor, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben, dass Russland spätestens seit 2014 das Land bedroht habe. „Alle haben uns gesagt, dass wir unsere Verteidigung ausbauen müssen, um Russland davon abzuhalten weiterzugehen.“

Oleg bezieht seine Informationen von Kriegsreportern wie Yurii Butusov, der direkt von der Front online berichtet – „die ganze Wahrheit“, sagt Oleg. Auch Butusov sage, dass es Mittel gegeben hätte, die Ukraine besser zu schützen, besser auf diesen Krieg vorzubereiten.
Seine Videos gibt es online auf Ukrainisch, aber man kann in englischsprachigen Interviews nachlesen, was er denkt. Zu viele geschönte Nachrichten aus dem Krieg, die Militärführung und die politische Führung benenne die Defizite in der Regel nicht. Problem Nummer eins, seiner Ansicht nach: „Wir haben keine Leute“, also Soldaten.
Im Innersten die Hoffnung auf einen Grund zurückzukehren
Auch weil Männer wie Oleg gegangen sind. Hat er deshalb ein schlechtes Gewissen? Natürlich sei er besorgt um die Zukunft seiner Freunde und Angehörigen. Er telefoniere mit seinen Freunden und Bekannten zuhause. „Jedes Mal, wenn ich anrufe, hoffe ich im Innersten, einen Grund zu finden, um zurückzukehren. Aber sie geben mir keinen. Alle sagen mir: Tu‘s nicht, du wirst es bereuen.“
Was Oleg von Russland erwartet, trägt er ganz nüchtern vor: Moskau werde die Rohstoffe der Ukraine ausbeuten und deren Bewohner zu Soldaten machen – für seinen nächsten Krieg. So funktioniere der russische Imperialismus.
Schlimmeres sieht Oleg für das ukrainische Volk nicht bevorstehen, Russen und Ukrainer seien schließlich Brudervölker, auf diese Verwandtschaft zählt Oleg – auch wenn die Gräueltaten von Butscha oder die Berichte von entführten Kindern eine ganz andere Sprache sprechen.
„Sie werden kommen!“
Korruption, geschönte Nachrichten – das ist der Zustand der Demokratie in seinem Land, wie Oleg ihn wahrnimmt. Von Deutschland hat er ein ganz anderes Bild. „Ihr habt hier viel zu verteidigen“, sagt er. „Ihr seid ein zivilisiertes Volk, sehr fortschrittlich, offen.“ Wenn Russland gewinne, erwartet er auch für Deutschland nichts Gutes: „Seid vorbereitet, lehrt eure Kinder Selbstverteidigung und wie man eine Waffe führt. Sie werden kommen!“
Es klingt ein wenig nach Schauermärchen. Tatsächlich Oleg hat dazu düstere Visionen im Kopf: Ähnlich wie im Roman „Game of Thrones“ sieht er die Ukraine als Wächter gegen die Wildlinge jenseits der Mauer.
Während andere Männer in der Ukraine kämpfen und sterben, lernt Oleg Deutsch. Demnächst will er die B1-Prüfung ablegen. Gerade beginnt er mit der Jobsuche. Er erwartet erst einmal nicht, in seinem eigentlichen Beruf etwas zu finden. „Die Sprache wird das nicht zulassen.“ Er rechnet damit, dass ihn ein Jahr Sprachpraxis weiterbringen wird. Zunächst möchte er einfach arbeiten, dem Staat nicht mehr auf der Tasche liegen. „Ich will Steuern zahlen – nicht nehmen, sondern geben.“
Wird er je in seine Heimat zurückkehren können? „Ich kann mir die Ukraine nach dem Krieg nicht vorstellen“, sagt er. Die Frage, die er für sich beantworten müsse, sei, wo die Zukunft liege, weniger von ihm als für seine Kinder. Die Antwort dazu ist für ihn klar: hier.