Herr Kiesewetter, wie lange dauert der Krieg in der Ukraine Ihrer Einschätzung nach noch?

Diese Frage hat viel damit zu tun, wie wir in Deutschland mit diesem Krieg umgehen. Ich vermisse bei unseren verantwortlichen Politikern Vorausschau und ein Denken in Szenarien. Denn die entscheidende Frage ist nicht, wie lange der Krieg dauert, sondern: Wie geht er aus? Steht am Ende, dass das Recht des Stärkeren gewonnen hat oder die Stärke des Rechts?

Das heißt: Wenn Russland letztlich ukrainischen Boden behält, keine Reparationen zahlen muss und die Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen verschoben wird, dann wird dieser Krieg Nachahmung finden – etwa durch einen Überfall Chinas auf Taiwan.

Sie sehen also eine Verantwortung des Westens für den Ausgang dieses Krieges?

Allerdings. Deutschland unterstützt die ukrainische Armee nur verhalten. Eine Führung und Koordinierung in Europa, die sich die USA von uns erhofft haben, hat nicht stattgefunden. Praktisch heißt das: Die Gegenoffensive der Ukraine ist im letzten September zum Stocken gekommen, weil es weder genug Munition noch ausreichend Gefechtsfahrzeuge gab. Erst als die USA zu weiteren Hilfen bereit waren, hat sich Deutschland bewegt und es wurden Panzer geliefert.

Zu spät also?

Ja, denn Russland hat diese Pause bei den Waffenlieferungen genutzt, um riesige Minenfelder anzulegen. Nun müssen sich ukrainische Soldaten ohne Luftunterstützung mühsam vorankämpfen, oft um nur wenige hundert Meter am Tag, weil die Minen mühsam beseitigt werden müssen. Daher wird der Krieg nur dann schnell beendet sein, wenn vom Westen das geliefert wird, was die Ukraine braucht. Die USA haben sich nur deshalb zur Abgabe der bei uns geächteten Streumunition durchgerungen, weil die Europäer zu wenig Munition produziert haben.

CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter bezweifelt, dass es eine Zeitenwende in Deutschland gibt.
CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter bezweifelt, dass es eine Zeitenwende in Deutschland gibt. | Bild: Hanser, Oliver

Mit welche Szenarien müssen wir uns noch beschäftigen?

Dass Russland im Winter seinen Kampf gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine fortsetzt. Allein von Juli bis Ende November 2022 sind mehr als 35.000 zivile Ziele zerstört worden – von Brücken bis zu Kindergärten und Krankenhäusern. Dem stehen nur etwa 320 militärische Ziele gegenüber. Wenn Russland damit weitermacht, könnten Millionen von Ukrainern angesichts der Perspektivlosigkeit ihr Land verlassen.

Daher wäre es zielführend, wenn man im Kanzleramt und in den beteiligten Ministerien in diesen Szenarien denkt und sie mit Preisschildern versieht. Einem möglichen Fluchtdruck in der Ukraine können wir entgegenwirken, indem wir das Land entschlossener militärisch unterstützen – etwa durch die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers.

Tut Deutschland nicht schon viel?

Ja, aber es könnte mehr sein. Deutschland ist ein Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von über vier Billionen Euro und einem Bundeshaushalt von über 450 Milliarden Euro. Unsere Militärhilfe hat einen Wert von 7,5 Milliarden Euro, zumindest was zugesagt wurde.

Die ukrainische Armee kommt derzeit zwar voran, aber die Gegenoffensive hat bisher nicht den breiten Durchbruch gebracht. Geht da noch etwas, bevor der Winter kommt?

Es war zu erwarten, dass es nur langsam vorangeht. Das ist auch ein Zeichen, dass man ukrainische Soldaten schützen will. Ein Erfolg der Ukraine hängt an der schnellen Lieferung moderner westlicher Waffensysteme und am Nachschub von Munition. Die ukrainische Armee hat das Ziel, die russischen Truppen auf der Krim von den Versorgungslinien abzutrennen.

Warum? An der Krim hängt das politische Überleben von Wladimir Putin. Sein Schicksal ist besiegelt, wenn die 35.000 russischen Soldaten auf der Krim aufgeben müssen. Das weiß man auch im Kanzleramt. Nach meinem Eindruck hat man dort mehr Sorge vor einem Aufgeben Putins als vor einem Aufgeben der Ukraine.

Wo rührt diese Haltung her? Von der SPD-Fraktion, aus dem Kanzleramt, oder kommt es von Olaf Scholz persönlich?

Die SPD-Fraktion wird da gerne vorgeschoben, aber an ihr liegt das nicht. Die Hälfte der Fraktion besteht aus jungen Abgeordneten, und die sind im Gegensatz zu Älteren nicht pazifistisch eingestellt. Die Grünen sind von allen Parteien im Bundestag am wenigstens russlandnah und haben die Lektionen aus der Geschichte gelernt. Sie unterscheiden klar zwischen Aggressor und Opfer. Das Problem liegt im Kanzleramt.

. . . worauf das Taktieren von Olaf Scholz hinweist?

Tief blicken lässt sein ständig wiederholter Satz, die Ukraine dürfe nicht verlieren und Russland nicht gewinnen, anstatt dass er – wie sein Verteidigungsminister Boris Pistorius – sagt: Russland muss verlieren. Ich setzte hinzu: Die Ukraine muss in ihren Grenzen von 1991 gewinnen. Unsere Aufgabe muss sein: Wir müssen in Europa Führung übernehmen, um die Amerikaner zu entlasten und dürfen nicht gebannt darauf schauen, ob Donald Trump vielleicht wieder Präsident wird.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) besucht im Sommer 2022 das Ausbildungsprogramm für ukrainische Soldaten am Flugabwehrkanonenpanzer Gepard.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) besucht im Sommer 2022 das Ausbildungsprogramm für ukrainische Soldaten am Flugabwehrkanonenpanzer Gepard. | Bild: Marcus Brandt, dpa

Wie könnte die Führung aussehen?

Scholz und sein französische Amtskollege Emmanuel Macron sollten zusammen verkünden, das Europa künftig die Hälfte der Waffenlieferungen an die Ukraine garantiert und nicht nur ein Drittel. Das wäre ein faire Teilung – aber sie ist leider nicht zu erwarten.

Warum?

Ich habe den Eindruck, dass sich der Kanzler durch einige Telefonate mit Putin hat einschüchtern lassen. Das ist unnötig. Ein Putin verhandelt, wenn er unter Druck gerät – siehe das Beispiel Jewgeni Prigoschin. Wenn er den Druck beseitigt hat, beseitigt er seine Widersacher. Er versteht nur die Sprache der Stärke. Aber Selbstabschreckung wie bei Scholz bestärkt ihn in seiner Brutalität.

Scholz hat aber immer angedeutet, er wolle die Gefahr einer atomaren Eskalation minimieren. Verstehen Sie diese Sorge vieler Bürger?

Gut, dass Sie das ansprechen. Die Sorge könnte der Kanzler leicht ausräumen durch den Hinweis: Wann immer wir bestimmte Waffen nicht geliefert haben – Schützen- und Kampfpanzer oder Flugabwehrraketen – hat Russland weiter eskaliert. Von hier geht die Eskalation aus, nicht vom Westen.

Zudem wurde die Nuklearfrage beim G-20-Gipfel im Herbst 2022 abgeräumt, indem man Russland klargemacht hat, dass es einen immensen Schaden erleiden würde, sollte es Atomwaffen einsetzen. Die nukleare Angst gibt es nur in Deutschland. Hier funktionieren Nuklearwaffen im Sinne einer deutschen Selbstabschreckung. Die wird in das russland-romantische Narrativ der Deutschen verpackt, das sagt: Wir eskalieren, wenn wir mehr moderne Waffen liefern. Ausgeschlossen indes ist nicht, dass Russland einen Vorfall an einem ukrainischen Kernkraftwerk inszeniert.

Sollte bei einer deutschen Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern die Reichweite begrenzt werden, um weit entfernte Ziele in Russland nicht angreifen zu können?

Das ist völlig unnötig. Kiew hat in Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich vertraglich zugesichert, die Marschflugkörper nur in russisch besetztem Gebiet zu verwenden. Sie halten sich auch an die US-Bedingungen für den Einsatz der Streumunition. Deshalb wäre es klug, wenn die Bundesregierung an Taurus auch einen solchen Vertrag knüpfen würde. Zugleich sollte man die F-16-Kampfjets für die Ausrüstung mit Taurus vorbereiten. Doch das Misstrauen aus dem Kanzleramt trifft die Ukrainer zutiefst.

Was meinen Sie? Wird Taurus geliefert?

Das bezweifle ich. Die Bundesregierung lässt sich immer wieder neue Ausreden einfallen, um es nicht tun zu müssen. Die Lieferung von Taurus ist aber ein notwendiger Baustein, wenn man die Ukraine näher an einen Sieg oder zumindest in eine Verhandlungsposition der Stärke bringen will.

Es wird oft von erforderlichen Verhandlungen mit Putin gesprochen. Aber kann man mit einem solchen Regime, das auf Lüge und Vertuschung beruht, überhaupt verhandeln?

Natürlich muss man am Ende verhandeln. Über Reparationen, Kriegsverbrechen und Sicherheitsgarantien. Sicher. Aber es war Selenksyj, der schon im März 2022 Verhandlungen angeboten hat – etwa den Verzicht auf die Krim. Die Antwort waren die russischen Massaker in Butscha und Irpin bei Kiew. Verständlich, dass die Ukraine dann nicht mehr an Verhandlungen interessiert war. Neue Gespräche setzen voraus, dass Russland bereit ist, die Existenz seiner Nachbarn zu respektieren.

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Hoffen Sie, dass Putin über Machtkämpfe stürzen könnte, wie sie im Prigoschin-Putsch zu sehen waren?

Man blickt nicht in Diktaturen. Aber ich antworte mit einem Vergleich: Am 4. September 1989 begannen die Montagsdemonstrationen mit 1200 Menschen in Leipzig. Zwei Monate und fünf Tage später fiel die Berliner Mauer. Der Zerfall von Diktaturen lässt sich nicht vorhersagen. Irgendwann ist eine kritische Masse für die Implosion erreicht. Man muss darauf vorbereitet sein, aber wir dürfen diesen Prozess nicht aus Angst verzögern.

Der Krieg in der Ukraine verstärkt die Neuausrichtung der Bundeswehr. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wurde bereitgestellt, aber die Stimmung bleibt getrübt. Hat Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede ein Strohfeuer angekündigt?

Um es direkt zu sagen: Die Zeitenwende hat gar nicht stattgefunden. Die Rede hatte zwei Aspekte: Ein Umdenken in der SPD, etwa das Ja zu bewaffneten Drohnen. Das ist gelungen. Der zweite Aspekt: Scholz hat geglaubt, wie andere auch, dass die Ukraine keine vier Wochen durchhält. Als klar wurde, dass es nicht so kommt, hat die Zeitenwende an Elan verloren. So wurden bisher von den 100 Milliarden nur 600 Millionen ausgegeben, 17 Milliarden gingen durch Inflation und Zinsen verloren.

Bekommt Boris Pistorius genug Geld?

Keineswegs! Der Verteidigungshaushalt für 2023 hat 1,7 Milliarden Euro mehr. Das ist der Ausgleich für die Gehaltssteigerungen bei der Truppe. Er muss in Anbetracht der Inflation also mit deutlich weniger Geld auskommen. Wir erleben die Zeitenwende in den Streitkräften nicht – es sei denn in Form neuer Socken und Stiefel.