Frau Käßmann, Sie gehörten im Februar zu den Erstunterzeichnern des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten „Manifests für den Frieden“. Darin wird gefordert, sich „für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen“ einzusetzen. Würden Sie das heute noch unterschreiben?

Ja. Aber ich verstehe inzwischen, dass manche beim Manifest eine Exegese mit einer Hermeneutik des Verdachts unternommen haben. Als ich den Text unbefangen gelesen habe, hatte ich diese Unterstellungen gegenüber Sahra Wagenknecht nicht im Hinterkopf und fand den Text okay.

Vor allen Dingen fand ich es wichtig, dass auch den Waffenlieferungen gegenüber kritische Stimmen endlich mal Gehör finden. Und dass mehr als 800.000 Menschen in kürzester Zeit das Manifest unterschrieben haben, zeigt doch, dass es in unserem Land viele Menschen gibt, die Waffenlieferungen kritisch sehen. Öffentlich wird jedoch so getan, als entsprächen die Waffenlieferungen der absolut klaren Mehrheitsmeinung.

Sie sind nach wie vor gegen Waffenlieferungen an die Ukraine?

Ja. Mehr denn je. Jetzt werden sogar Streubomben geliefert. Wo soll das noch hinführen?

Gibt es für Christen einen gerechten Krieg?

Nein, es gibt keinen gerechten Krieg. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche sprechen nicht mehr vom „gerechten Krieg“, sondern nur noch vom „gerechten Frieden“. Allerdings gibt es in beiden Kirchen unterschiedliche Meinungen zu Waffenlieferungen. Die Mehrheit der Kirchenleitung in beiden Kirchen ist mit Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine für Waffenlieferungen. Es gibt in beiden Kirchen aber auch die pazifistische Stimme – und zu der gehöre ich.

Was schlagen Sie vor? Wie soll die Ukraine sich ohne Waffenlieferungen gegen den russischen Aggressor verteidigen?

Eine schwierige Frage. Ich bin nicht Ukrainerin, ich kann deshalb nichts für die Ukrainer entscheiden. Ich kann mir nur als Deutsche meine Meinung bilden. Und als Deutsche finde ich es richtig, dass Deutschland keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete liefert. Ich bin ohnehin gegen Rüstungsexporte. Bislang gab es zumindest den Konsens, dass keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete geliefert werden. Ich finde es schwierig, dass das einfach innerhalb von drei Tagen über den Haufen geworfen wurde. Das öffnet Tür und Tor für weitere Waffenlieferungen. Die Kurden, die Rohingya, die Uiguren – es gibt viele, die gerne Waffen von uns hätten, um für eine sehr gerechte Sache zu kämpfen.

Sollte Deutschland deshalb den Ukrainern die Unterstützung mit Waffen verwehren?

Deutschland hätte wie Österreich reagieren können und sagen: Wir liefern keine Waffen in Kriegsgebiete.

Welche Rolle spielt die deutsche Vergangenheit bei Ihrer Ablehnung der Lieferung von Waffen, die gegen Russland eingesetzt werden?

Mit Blick auf unsere Geschichte finde ich es fatal, dass deutsche Panzer gegen Russen eingesetzt werden. Aber mir geht es vor allem um die Eskalationsspirale und um die Auswirkungen, die die massiven Waffenlieferungen auch auf das Leben in Deutschland haben. Das kriegen wir alle gerade zu spüren. Die Inflation bei Lebensmitteln liegt bei 22 Prozent. Das trifft vor allem Familien und die Ärmsten in unserem Land besonders hart.

Immer mehr Menschen müssen zu den Lebensmittelausgaben der Tafeln gehen. Und als Großmutter halte ich es mit Blick auf die Zukunft der Kinder für einen völlig falschen Ansatz, 100 Milliarden Euro in Rüstung zu investieren, aber nicht in der Lage zu sein, die Kindergrundsicherung zu finanzieren.

Sie werden wegen Ihres Neins zu Waffenlieferungen gegen die Ukraine scharf kritisiert. Geht Ihnen das nahe?

Ja, ich nehme mir das zu Herzen. Aber wenn ich schon in der ersten Zeile lese: „Du verfickte Kirchenziege“, dann drücke ich die Delete-Taste (für Löschen, Anm. d. Red.). Früher habe ich mir noch alles durchgelesen, mittlerweile bin ich so altersgelassen, dass ich mir das nicht mehr geben muss. Ich argumentiere, wenn jemand mit mir argumentieren will. Aber ich lasse mich nicht mehr so unterirdisch beschimpfen.

Sie sind – oder waren? – eine Ikone der deutschen Friedensbewegung. Ist die Friedensbewegung seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine tot?

Nein, sie ist ziemlich lebendig. Ich könnte jeden Monat auf einer Veranstaltung der DFG VK (Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen) einen Vortrag halten. Ich war zwar nicht auf der von Sahra Wagenknecht organisierten Demonstration in Berlin, aber ich habe auf den Februardemonstrationen in Bonn und in Köln sowie beim Ostermarsch in Hannover eine Rede gehalten. Allerdings schafft die Friedensbewegung es derzeit nicht, eine Großdemonstration wie beim Irakkrieg 2003 hinzulegen. Damals waren wir allein in Berlin mit einer halben Million Menschen auf der Straße.

Warum gibt es jetzt keine großen Friedensdemonstrationen?

Viele Menschen sind sehr verunsichert. Sie wissen nicht, was in dieser Situation angesichts des russischen Angriffskrieges richtig ist. Ich finde es immer besser, Zweifel zu haben als keine Zweifel zu haben, denn sie sind wichtig für die eigene Positionsfindung. Zudem ist es ein großes Problem, dass die AfD ständig versucht, die Friedensbewegung zu kapern. Dabei haben die Friedensbewegten nun wirklich gar nichts mit der AfD am Hut. Die AfD will unserem Land nicht Frieden bringen, sondern Unfrieden. Darum sage ich auch: Auf Friedensdemonstrationen der DFG VK ist kein Platz für Neonazis und Vertreter der AfD.

Nicht nur aus der katholischen Kirche treten immer mehr Menschen aus. Was muss die Kirche jetzt tun, um relevant zu bleiben oder wieder relevant zu werden?

Würde ich die Lösung kennen, hätte ich sie meinen Nachfolgern natürlich schon präsentiert. Ich denke, wir müssen vor allem an drei Dingen arbeiten: Erstens müssen wir es schaffen, dass wieder mehr Ortsgemeinden zu Orten gelingender Kirche werden, an denen Menschen gerne zusammenkommen, gemeinsam ihren Glauben feiern, beten, singen und sich zur Seite stehen, anstatt während des Gottesdienstes auf die Uhr zu schauen und zu hoffen, dass es bald vorbei ist. Ich kenne viele Gemeinden, in denen tolle Arbeit geleistet wird – allen Missbrauchsskandalen zum Trotz.

Was muss die Kirche noch tun?

Sich mehr um die Einsamkeit der Menschen kümmern. Einsamkeit ist ein Riesenthema, nicht nur bei alten, sondern auch bei jungen Leuten. Als Kirche bieten wir Orte, an denen Junge und Alte zwanglos zusammenkommen können, an denen niemand gefragt wird, ob er Mitglied ist oder nicht, an denen jeder willkommen ist. Ich finde es zum Beispiel ganz toll, dass die Marktkirche in Hannover an heißen Tagen kostenlos Trinkwasser zur Verfügung stellt. Das lockt viele Menschen, unter ihnen auch Obdachlose, in die Kühle der Kirche.

Sie sind siebenfache Oma. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Enkel?

Natürlich mache ich mir Sorgen um meine Enkel. Ich denke, das geht allen Großeltern so. Ich bin der Überzeugung, dass meine Generation, die Generation der Babyboomer, es deutlich leichter hatte. Bei uns wurde gefühlt alles immer besser, heute droht die Klimakatastrophe. Aber meine Enkel machen mir auch Hoffnung. Wir sollten den Kindern von heute alle Möglichkeiten geben, ihre Welt zu gestalten. Meine Enkel sind nicht die letzte Generation.

Was halten Sie von den Klimaaktivisten der „Letzten Generation“?

Ich finde die „Letzte Generation“ problematisch, weil mehr über ihre Methoden als über ihre Inhalte gesprochen wird. Ich glaube, jeder – außer vielleicht Donald Trump und der AfD – hat mittlerweile begriffen, dass es eine Klimakatastrophe gibt und wir etwas dagegen tun müssen. Wir brauchen jetzt Lösungen. Aber wir brauchen niemanden, der Kunstwerke beschmiert oder sich irgendwo festklebt. Das dient der Sache meines Erachtens nicht. Ich halte es für kontraproduktiv, weil es viele Leute wütend macht und dazu führen könnte, dass sie sich von den berechtigten Forderungen der Klimaschützer abwenden.

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Lebt man verantwortungsvoller, wenn man Enkelkinder hat?

Mich hat das Mutter- und Großmuttersein mehr geprägt als alles Berufliche. Wer Kinder und Enkel hat, wünscht ihnen eine Welt, die so lebenswert ist, wie die, in der ich aufgewachsen bin. Mehr als 20 Millionen Deutsche sind Großeltern. Das ist fast ein Viertel der Bevölkerung. Doch ich möchte Menschen, die keine Enkel haben, nicht unterstellen, dass sie weniger verantwortungsvoll leben.

Ich habe mich auch schon für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung engagiert, als ich noch keine Kinder hatte. Als Christin denke ich, dass uns die Welt von Gott anvertraut ist und wir verantwortungsvoll mit ihr umgehen müssen. Die Grünen haben es am Anfang so ausgedrückt: Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt.

Sie haben gerade das Buch „Kostbare Zeit. Das Buch für Großeltern“ geschrieben. Darin geben sie viele Tipps für gelingende Beziehungen zwischen Enkelkindern, Eltern und Großeltern. Die vielleicht wichtigste Frage: Dürfen oder sollen Großeltern erziehen?

Ich war auch schon in Versuchung, denn manchmal sehe ich bei meinen Töchtern Dinge, die ich anders machen würde. Aber ich finde: Großeltern sollten sich nicht in die Erziehung einmischen. Das geht fast immer schief. Wenn man gefragt wird, kann man natürlichen Rat geben.

Aber im Allgemeinen rate ich zu einer gewissen Gelassenheit. Lasst die jungen Leute ihre Kinder erziehen, wir Großeltern haben eine andere schöne Rolle. Die Eltern müssen die Erziehungsleistung bringen, und darum muss auch ganz klar sein, dass Großeltern die Regeln der Eltern respektieren. Allerdings: Wenn die Kinder bei Oma und Opa sind, gelten die Regeln der Großeltern. Kinder können das gut verstehen.

Dürfen Großeltern mehr erlauben als Eltern?

Ja. Es ist ja das Schöne, dass Du die Kinder nicht erziehen musst.

Können Großeltern von ihren Enkelkindern Dankbarkeit einfordern?

Meine Enkel freuen sich riesig, wenn Omi kommt, aber ich fände es unpassend, Dankbarkeit von ihnen einzufordern. In der Bibel heißt es: Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. (lacht)

Bild 1: Margot Käßmann, wie soll sich die Ukraine ohne Waffenlieferungen wehren?
Bild: Bene-Verlag

Was ist besser: Eltern- oder Großelternsein?

Senta Berger hat mal gesagt. Enkel sind das Sahnehäubchen des Lebens. Und in der Bibel steht: Enkel sind die Krone der Alten. Ich finde Großmuttersein schöner als Muttersein, weil es mehr Kür und weniger Pflicht ist. Ich muss nicht mehr nachts am Bett sitzen, wenn die Kinder Fieber haben. Als Großmutter stehe ich nicht mehr so unter Druck wie in der Rushhour des Lebens, in der Beruf, kleine Kinder und vielleicht noch Sport, Ehrenamt und die Versorgung der alten Eltern unter einen Hut gebracht werden müssen. Ich befinde mich jetzt in der schönsten Lebensphase.

Sie sind im Juni 65 Jahre alt geworden und haben angekündigt, kürzer treten zu wollen. Weniger Medienpräsenz, weniger Talkshows, weniger Termine. Warum?

Ich finde es wichtig, auch loslassen zu können. Andererseits: Ich habe kein Schweigegelübde abgegeben, werde nicht verstummen. Wenn ich gefragt werde, werde ich schon noch was sagen. Aber ich möchte nicht mehr diesen Druck haben, jede Woche eine „Bild am Sonntag“-Kolumne schreiben zu müssen. Das habe ich neun Jahre lang gemacht. Ich habe keinen Sonntag ausgelassen. Es hat Spaß gemacht, aber ich finde, es ist dann auch mal gut.