Herr Kaminer, Ihr neues Buch „Frühstück am Rande der Apokalypse“ ist viel ernster als all Ihre anderen Bücher. Ist es für Sie in Zeiten des Krieges unmöglich geworden, ein lustiges Buch zu schreiben?
Ich finde das Buch durchaus lustig. Ich sehe in der Tragik des Krieges auch einen großen Witz. Das Leben ist eine Tragödie, die wir ausblenden und tun so, als würden wir ewig leben und als sei alles in Ordnung. Aber natürlich ist eine Tragödie eine Sackgasse. Doch würden wir uns das immer bewusst machen, würden wir nur weinen und kämen nicht weiter. Eine Tragödie ist auch lächerlich, und dieser Krieg und der russische Präsident sind lächerlich.
Für die ukrainische und die russische Bevölkerung ist der Krieg nicht nur eine Tragödie, sondern eine Katastrophe.
Die staatlichen russischen Medien versuchen, die Illusion aufrecht zu erhalten, dass es kein Krieg, sondern nur eine Spezialoperation ist. Viele Russen nehmen den Krieg deshalb nicht als Krieg, sondern als eine Art Naturereignis wahr. Vor kurzem hat sich vor der Brücke zur Krim ein 13 Kilometer langer Stau gebildet, weil die Russen in einer Gegend Urlaub machen wollen, die erst vor kurzem okkupiert worden ist und die die inzwischen stärkste Armee Europas jetzt zurückerobern will.
Diese Leute wollen ihre Kinder im Schwarzen Meer baden lassen, in dem seit der Explosion des Kachowka-Staudamms unter anderem Tierkadaver treiben. Es gibt auf der Halbinsel kaum sauberes Trinkwasser, alles ist in einem katastrophalen Zustand, es herrscht Krieg – aber Urlaub auf der Krim muss sein!
Wie konnte es zum Krieg kommen?
Ich habe aus vielen Quellen, denen ich vertraue, gehört: Putin ist der reichste Mann der Welt. Öl und Gas haben ihn so reich gemacht. Er musste dafür nicht viel tun, nur kassieren. Das ist der Fluch der Ressourcen-Wirtschaft. Irgendwann hatte Putin so viel Geld, dass er sich vom Geld abgewandt und dem großen Thema aller Garagenrentner zugewandt hat.
Was sind Garagenrentner? Und was ist ihr großes Thema?
Putin ist ein Garagenrentner, also ein Mensch, der eigentlich schon das Rentenalter erreicht hat, sich aber noch total fit fühlt. Das große Thema der Garagenrentner ist die Geopolitik. Sie sitzen in Russland auf der Bank hinter der Garage und sagen: „Der Amerikaner ist frech geworden. Das kann man sich doch nicht gefallen lassen.“ Dann machen sie sich noch eine Flasche Bier auf. Leider ist das Geplauder eines einseitig gebildeten, soziopathischen Garagenrentners zur Weltpolitik geworden, die nun den ganzen Planeten gefährdet.
Glauben Sie, dass Putin verrückt ist?
Nein. Als ich in der Armee war, wollten viele simulieren, dass sie psychische Probleme haben. Aber der Oberst hat gesagt: „Verrückt ist nur jemand, der Seife frisst.“ Putin frisst keine Seife.

Was treibt ihn an?
Er will Russland, das große Land, das quasi aus der Geschichte rausgeschmissen wurde, wieder groß und stark machen. Er will, dass alle dieses Imperium akzeptieren und Angst vor ihm haben. Das hat furchtbare Folgen. Wie soll die heutige Welt mit einem solch komischen Imperium umgehen?
Man kann gegenüber diesem Imperium viele Gefühle entwickeln: Ekel, Hass, Gleichgültigkeit. Aber so ein Ding in der unmittelbaren Nachbarschaft zu haben, das von sich denkt, im Meer der Verdorbenheit und der im Untergang begriffenen kapitalistischen Staaten das letzte Bollwerk des Abendlandes und der Moral zu sein, das ist doch irre!
Sieht er nicht die Gefahr, als Zerstörer Russlands in die Geschichte einzugehen?
Er lebt nicht im realen Russland. Das reale Russland ist schon jetzt sehr kaputt. In seiner Illusion ist Putin der von Gott auserwählte Herrscher, der zu Erfolg verpflichtet ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ukraine jetzt ein paar Quadratkilometer zurückerobert oder nicht. Putin kämpft ja nicht gegen die Ukraine. Er kämpft gegen den Westen, der ihn nicht wahrhaben und nicht auf Augenhöhe mit ihm sprechen wollte.
Finden Sie den ukrainischen Patriotismus falsch?
(Denkt lange nach). Das ist eine knifflige Frage. Ich möchte die Beantwortung jedem selbst überlassen. Wer bin ich, zu sagen, was richtig und was falsch ist? Ich würde niemals Menschen dazu aufrufen, ihr Leben zu opfern, egal für was. Ich glaube, dass weder in Russland noch in der Ukraine die Mehrheit der Menschen patriotisch ist. Auch in der Ukraine sind nicht alle bereit, für ihr Land zu sterben. Viele wollen leben, vielleicht in einem anderen Land. In Deutschland und in allen anderen Ländern, die ich besuche, treffe ich ukrainische Männer im wehrfähigen Alter.
Ich glaube schon, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer Patriotinnen und Patrioten sind.
Die Ukraine hat einen genialen Präsidenten. Selenskyj macht nach innen und außen eine sehr gute Figur. Er motiviert die Ukrainer für den existenziellen Kampf um ihr Land. Es geht um ihr Überleben. Sie haben gesehen, was die Russen in besetzten Gebieten machen. Stichwort Butscha. Weil sie auf ihrem eigenen Territorium für ihr Land kämpfen, ist die Motivation für Selenskyj nicht so kostenaufwendig wie für den Aggressor. Was Putin jetzt an Geld ausgibt, ist beispiellos in der Geschichte dieses Regimes und aller Regime zuvor.
Sie meinen den Sold und die Kompensationszahlungen für Verwundete und Gefallene?
Ja, wenn eine Familie aus einer armen Region jemanden in diesem Krieg verliert, kann sie ein neues Haus bauen und ein Auto kaufen. Ein gefallener Soldat ist wie ein Sechser im Lotto.
Da muss ich widersprechen. Es ist doch kein Sechser im Lotto, wenn man im Krieg geliebte Menschen verliert.
Ich weiß nicht. Möglicherweise hatten sie ja nur Probleme mit diesem arbeitslosen Vater oder Bruder, der, selbst wenn er Arbeit gehabt hätte, in seinem ganzen Leben nicht mal die Hälfte von dem verdient hätte, was er für seinen schnellen Tod bekommt.
Ich glaube, Sie übertreiben.
Ich glaube nicht. Nach meinen Informationen werden von dem Totengeld gerade ganze Siedlungen neu gebaut. Und man muss ja nicht gleich das Schlimmste annehmen. Man kann ja auch mit einer Verletzung gut kassieren.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass Sie mit Ihren Kindern das Verhalten bei einem Atomangriff auf Berlin üben wollten. Fürchten Sie einen Nuklearschlag?
Überall auf der Welt gibt es eine große Bewegung von Menschen, die sich auf die Apokalypse vorbereiten, Bunker bauen und Vorräte anlegen. Das ist für mich keine Perspektive, in einer solchen Welt möchte ich nicht leben. Meine Generation ist im Kalten Krieg aufgewachsen, wir waren ständig mit dem Thema konfrontiert. Meine Zeitgenossen haben Witze darüber gemacht. „Was tut man im Falle eines Nuklearschlags? Man wickelt sich in ein weißes Laken und krabbelt langsam Richtung Friedhof.“
Also lieber Witze machen als Angst haben?
Jeder vernünftige Mensch sollte Angst haben. Angst ist nichts, wofür man sich schämen sollte. Sie ist ein zutiefst menschliches und lebensrettendes Gefühl. Aber man darf sich nicht von Ängsten verleiten lassen. Das sehen wir an der EU-Politik gegenüber der Ukraine. Wenn nur die Angst regiert, werden meist idiotische Entscheidungen getroffen.
Schämen Sie sich, Russe zu sein?
(Denkt lange nach) Nein, gar nicht. Ich schäme mich nur ein wenig für diese unglückliche politische Entwicklung. Wir haben immer gedacht, dass die sowjetische Diktatur schuld daran ist, dass die Menschen unfrei leben und denken. Aber jetzt ist die Sowjetunion seit über 30 Jahren nicht mehr da. Und erst jetzt merken meine Landsleute, was für eine Katastrophe die Sowjetunion war. Ein Leben in Unfreiheit hinterlässt einen psychischen Schaden, der nicht in 30 Jahren wiedergutzumachen ist. Die menschliche Psyche ist träge.
Spüren Sie seit dem Krieg Russophobie in Deutschland?
Nein, ich bekomme viel Mitleid und viele Fragen. Ich bin ja derjenige, der hier 30 Jahre lang erzählt hat, was für ein tolles Land Russland ist. Dass das Volk europäisch, kreativ und herzensgut ist, dass es nur vorübergehende Probleme mit seiner politischen Führung hat. Aber wer hat das nicht? Und jetzt, da dieses kreative Volk ein Nachbarland überfallen hat, fühle ich mich in gewisser Weise auch in Verantwortung. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich seit Beginn des Krieges in Berlin viele unglaublich tolle Russen kennengelernt habe.
Wen meinen Sie?
Viele Schriftsteller und Journalisten, die aus Russland fliehen müssen, wenden sich an mich. Viele sind – nicht zuletzt durch meine Anstrengungen – in Berlin gelandet.
Welche Rolle spielen russische Künstlerinnen und Künstler im Krieg?
Im Gegensatz zu vielen Schauspielern und Theatermachern haben sich die meisten Musiker sehr mutig verhalten und sich klar vom Regime distanziert. Von den Helden meiner Generation, den alten Rockern, bis zu den modernsten Rappern, diesen leichtsinnigen Hohlköpfen mit den tätowierten Gesichtern – sie alle haben sehr stark zum Ausdruck gebracht, was sie vom Krieg halten. Viele von ihnen mussten das Land verlassen. Für mich war es eine große Erleichterung, dass ausgerechnet die Musiker, also nicht gerade die hellsten Kerzen auf der Kulturtorte, sich so vorbildlich verhalten haben.
Anna Netrebko hat sich zunächst nicht klar vom Krieg distanziert.
Ja, sie ist blöd.
Finden Sie es richtig, dass sie deshalb auf Bühnen gecancelt wird?
Nein. Sie soll ja nicht wegen ihrer politischen Aktivitäten eingeladen werden, sondern wegen ihrer wunderschönen Stimme. Solange sie keine Kriegshetze betreibt, soll sie weitersingen.
Nicht erst seit Beginn des Krieges äußern Sie sich sehr kritisch gegenüber der russischen Politik. Sie haben also keine Angst, dass Sie mundtot gemacht werden sollen?
Sicher stehe ich auch auf dieser Feindesliste, aber vielleicht irgendwo auf Seite 1305.
Glauben Sie, dass Seite 1305 ein sicherer Platz ist?
Es ist einfach zu eklig, um auch nur darüber nachzudenken.
Das Buch: „Frühstück am Rande der Apokalypse“ erscheint am 23. August im Wunderraum Verlag.