Frau Köcher, „Krisenmodus“ wurde gerade zum Wort des Jahres gekürt. Wie ist Ihre persönliche Stimmung?

Ich bin in der Regel in der Balance. Wobei ich mir wirklich wünschen würde, dass wir 2024 nach vier Jahren, die von Krisen und Ausnahmesituationen geprägt waren, mal wieder eine normale Lage bekommen, damit wieder Zuversicht wachsen kann.

Wie wirkt sich der permanente Krisenmodus auf die Gesellschaft aus?

Im Moment ist die Stimmungslage in Deutschland sehr stark von Unsicherheit geprägt. Und auch von der Überzeugung: Wir kriegen es nicht hin, das Land funktioniert nicht mehr wie früher.

Ist das mehr ein Eindruck, oder ist es tatsächlich die Realität?

Es gibt ja viele Defizite im Moment, die völlig quer zu unserem Selbstbild stehen, dass wir Herausforderungen konsequent angehen und sie gut bewältigen können. So allmählich versteht man ja nicht mehr, warum ein europäisches Land nach dem anderen bei der Digitalisierung an uns vorbeizieht, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich habe allerdings kürzlich ein Organigramm gesehen, wie in Deutschland die Zuständigkeit für Digitalisierung verteilt ist. Da habe ich erstmal die Hoffnung verloren, dass sich irgendetwas bessern kann.

Die Politik betont zwar die Bedeutung der Digitalisierung – wie auch von Bürokratieabbau, Modernisierung der Infrastruktur oder Verbesserungen im Bildungswesen –, aber die Umsetzung funktioniert nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung fürchtet mittlerweile, dass wir unseren Zenit überschritten haben – das ist völlig neu. So gedrückt war die Stimmung nicht einmal in der Phase der Wachstumsschwäche zwischen 2000 und 2005.

Wie erklären Sie sich, dass andere Länder an uns vorbeiziehen? Wird in Deutschland geschlafen?

Ich denke, es gibt mehrere Ursachen. Zum einen lässt die Leistungsfähigkeit des Staates in wichtigen Bereichen zu wünschen übrig, im Bildungswesen genauso wie bei der Modernisierung der Infrastruktur oder der Verteidigung. Dann die zersplitterten Zuständigkeiten, die dazu führen, dass letztlich niemand Verantwortung übernimmt. Aber vor allem auch, dass die Umsetzung von Zielen nicht ausreichend geplant wird – oft nicht einmal diskutiert.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat nach der Regierungserklärung zu Kanzler Olaf Scholz im Bundestag gesagt: Herr Bundeskanzler, Sie können es nicht. Hat er recht?

Die Regierung hat viel Vertrauen verloren. Am Beginn der Legislaturperiode herrschte für eine kurze Zeit Aufbruchstimmung, weil viele den Eindruck hatten, dass jetzt vieles angepackt und reformiert wird. Diese Hoffnung ist weitgehend dahin. Natürlich hatte die Ampelkoalition auch das Pech, dass sie mit Herausforderungen konfrontiert war, die sie gar nicht auf der Agenda hatte: der Ukrainekrieg, die Energiekrise und die hohe Inflation.

Haben Sie manchmal Mitleid mit der Regierung?

Manchmal schon. Was nicht heißt, dass man es nicht besser machen könnte. Es fehlt die langfristige Planung, wie sich das Land entwickeln muss, um eine gute Zukunft zu haben. Stattdessen gibt es ohne Ende Scharmützel zwischen den Parteien, oft auf Nebenkriegsschauplätzen. Dabei können Politiker sich auch heute durchaus Respekt erwerben.

Das Amt des Verteidigungsministers ist ja nicht sehr popularitätsträchtig. Aber im Moment ist der Verteidigungsminister mit Abstand der populärste Politiker der Republik. Warum ist das so? Weil die Leute bei ihm das Gefühl haben, er konzentriert sich ganz auf seine Aufgabe. Er weiß, wo er hin will. Er steht auch zur Truppe. Und er sagt Dinge, die nicht glattgeschliffen sind. Man sieht an dem Beispiel, dass es kein Geheimrezept ist, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, besucht in Litauen die deutschen Soldaten.
Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, besucht in Litauen die deutschen Soldaten. | Bild: Kay Nietfeld, dpa

Braucht es mehr Klartext in der Politik?

Auf alle Fälle. Die Politik glaubt teilweise, dass Offenheit ihr schadet. Wenn man sich ständig mit Bevölkerungsumfragen beschäftigt, hat man mehr Vertrauen zur Bevölkerung, die vieles ganz realistisch sieht.

Warum gibt es dann so wenige Positivbeispiele?

Zum einen haben wir heute weit überwiegend Berufspolitiker, die nicht aus anderen Berufen kommen und daher auch wesentlich abhängiger von ihren Parteien sind. Aber auch die Rahmenbedingungen haben sich teilweise ungünstig entwickelt, auch durch die modernen Kommunikationsmedien. Sie haben die Politik kurzatmiger gemacht. Zumindest Bundespolitiker sind heute oft sehr eng getaktet, so dass zu wenig Zeit für Nachdenken und gründliche Information und Diskussion bleibt.

Springen wir thematisch in die aktuelle Politik. Die Bundesregierung kämpft mit ihren Finanzen und mit ihren Prioritäten. Wie lange geben Sie der Ampel noch?

Bis September 2025, dann sind die nächsten Wahlen angesetzt. Es wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod, wenn sie jetzt Neuwahlen ansetzen würden. Zwei der drei Koalitionspartner würden bei einer Neuwahl extrem geschwächt. Die Grünen kämen noch mit Abstand am besten davon.

Auch ohne Neuwahlen auf Bundesebene wird 2024 ein spannendes Wahljahr. Bislang deuten ja alle Umfragen an, dass die AfD bei den Landtagswahlen im Osten Siege einfahren könnte. Kann sich das noch mal drehen?

Die große Unbekannte ist Sahra Wagenknecht und ihr Bündnis. Was ich nicht einschätzen kann, ist, ob es ihr gelingen wird, eine Parteistruktur aufzubauen. Sie selbst ist aus meiner Sicht überhaupt kein Parteimensch. Sie ist eine Primadonna.

Wenn sie es schafft, hat die neue Partei durchaus Potenzial, denn der Anteil der Bevölkerung, der sich grundsätzlich vorstellen kann, eine Sahra-Wagenknecht-Partei zu wählen, liegt in Ostdeutschland bei 30 Prozent. Das würde insbesondere die Chancen der Linken und der AfD beeinträchtigen, denn bei ihren Anhängern ist die Offenheit für eine Sahra-Wagenknecht-Partei am größten.

Über Sahra Wagenknecht sagt Renate Köcher: „Sie ist eine Primadonna.“
Über Sahra Wagenknecht sagt Renate Köcher: „Sie ist eine Primadonna.“ | Bild: Bernd Von Jutrczenka, dpa

Wo ist denn der Anknüpfungspunkt für potenzielle AfD-Wähler beim Bündnis Sahra Wagenknecht? Außer dass man einfach immer gegen etwas ist?

Unzufriedenheit und Kritik an den etablierten Parteien sind ein starkes Motiv sowohl bei AfD-Anhängern wie bei denjenigen, die sich die Wahl einer Sahra-Wagenknecht-Partei vorstellen können. Im Osten kommt noch dazu, dass das Thema Russland und Ukrainekrieg deutlich anders gesehen wird als in Westdeutschland, und auch da gibt es Berührungspunkte zwischen der AfD und den Positionen von Sahra Wagenknecht.

Die AfD wurde gerade in Sachsen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Beeindruckt das potenzielle AfD-Wähler?

Nein, die AfD wird in Medien und Diskussionen ja seit Jahren so eingeordnet. Und das hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist zwar so, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sich persönlich klar von der AfD abgrenzt. Aber in Umfragen liegt sie zurzeit um die 20 Prozent. Aus meiner Sicht hat man sich mit der AfD zu sehr auf der Etiketten-Ebene auseinandergesetzt. Man müsste sich viel stärker inhaltlich mit ihr beschäftigen.

Die AfD punktet mit Themen um die Migration. Wie ist es nach bald zwei Jahren Krieg um die Solidarität mit den Ukrainern bestellt in Deutschland?

Zum einen verändert sich die Anteilnahme am Ukrainekrieg, nachdem er nun schon fast zwei Jahre dauert. Das ist bedauerlich, denn die Ukraine kämpft verzweifelt für Freiheit und Unabhängigkeit. Zum anderen ist die Bevölkerung jedoch irritiert, dass im Vergleich zu anderen Ländern ein viel geringerer Anteil der Ukraineflüchtlinge in Deutschland arbeitet: Weniger als 20 Prozent, in anderen Ländern sind es 50, teilweise über 60 Prozent. Das zeigt, dass wir etwas falsch machen – durch bürokratische Hürden und falsche Anreize.

Der Staat investiert ja stark in die sozialen Sicherungssysteme, zum Beispiel auch in das Bürgergeld. Es wird um zwölf Prozent erhöht. Finden die Menschen das richtig?

Die deutsche Bevölkerung will einen starken Sozialstaat, quer durch alle Schichten. Aber der Gerechtigkeitssinn der Bevölkerung hat auch eine ausgeprägte Leistungskomponente: Sie will einen beträchtlichen Unterschied zwischen Erwerbseinkommen und Unterstützungseinkommen. Die Mehrheit ist überzeugt, dass dieser Abstand nicht ausreichend gewahrt ist und sich daher Leistung oft nicht ausreichend lohnt.

Ich glaube, dass das von der SPD zu wenig berücksichtigt wird. Respekt war ja einer der Schlüsselbegriffe des SPD-Wahlkampfs. Aber die Frage ist: Respekt wofür und für wen? Der Respekt für diejenigen, die arbeiten und damit die sozialen Sicherungssysteme finanzieren, kommt zu kurz.

Respekt voreinander und füreinander ist ein wichtiges Thema. Hilft da die Leitkultur, die die CDU einführen will?

Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, dass die CDU bei dieser Diskussion vor 20 Jahren zurückgerudert ist. Eine Leitkultur ist in einem Land, das ganz klar ein Zuwanderungsland ist, wichtig. Es gibt Grundprinzipien dieser Gesellschaft, die müssen akzeptiert werden von Leuten, die auf Dauer hier bleiben wollen. Dafür finde ich den Begriff Leitkultur gut.

Wer beispielsweise die Gleichstellung der Geschlechter nicht akzeptieren mag, das demokratische System nicht akzeptiert oder die staatlichen Institutionen und die Justiz, sollte sich für ein anderes Land entscheiden. Ich glaube, so kann die Bevölkerung auch viel besser mit Migration leben. Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist nicht ausländerfeindlich, aber sie will Kontrolle über den Prozess der Migration und eine funktionierende Integration.

Man hat sich in der Politik zu lange überhaupt nicht damit beschäftigt, was ein wachsender Anteil von Bevölkerungskreisen mit Migrationshintergrund und teilweise ganz anderen kulturellen Prägungen bedeutet. Das war jahrzehntelang eigentlich kein Thema in der öffentlichen Diskussion, in der Bevölkerung schon.

Das ist kein politischer Konsens.

Ich würde sagen, es ist inzwischen ein relativ breiter Konsens in der Politik. Auch die SPD befasst sich zunehmend damit. Und den Grünen wird bewusst, dass sie sich von Teilen ihrer Anhänger entfernen, wenn sie das Thema nicht angehen. Das führt ja nicht unbedingt zum selben Ergebnis. Aber dass man da ein Thema hat, mit dem man sich ernsthaft beschäftigen muss, das ist bewusst geworden.

Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, steht SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz und Angelika ...
Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, steht SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz und Angelika Wohlfrom, Leiterin der politik-Redaktion, Rede und Antwort. | Bild: Scherrer, Aurelia

Frau Köcher, was könnte uns denn Hoffnung machen, dass es 2024 besser wird? Außer einer guten Flasche Rotwein.

Ich hab‘s nun mal überhaupt nicht mit Alkohol (lacht). Also, zum einen muss ich sagen, bei allen Problemen, die wir haben, müsste man eigentlich jeden Tag eine Kerze anzünden, dass man in Europa lebt. Der Kontinent, der aus meiner Sicht der intakteste und am lebenswertesten ist, bei allen Problemen. Aber es braucht mehr Courage und Konsequenz, speziell auch in Deutschland, um das Land aus dem Stimmungstief zu holen.