Am Tag nach der Niederlage läuft SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die zwei, drei Kilometer vom Regierungsviertel zum Willy-Brandt-Haus zu Fuß. Seine Sozialdemokraten sind bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern krachend gescheitert, noch nie waren sie schlechter in beiden Bundesländern. In der Parteizentrale kommt gleich die SPD-Spitze zusammen, um über Auswege aus der Misere zu beraten. Frische Luft kann da helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.
Mützenich weiß es noch nicht genau, ahnt es aber schon voraus: Das Treffen wird nichts Greifbares, nichts Neues ergeben. Die SPD kreist um sich selbst, hat in der Rotation Halt und Orientierung verloren. Für FDP und Grüne läuft es gerade ebenfalls nicht besonders gut. Aber für keine andere Partei läuft es in der Ampel-Koalition so schlecht wie für die SPD.
SPD gewinnt in Hessen keinen einzigen Wahlkreis
Der Absturz ist brutal schmerzhaft. Bereits bei den letzten Landtagswahlen hatte die Partei in Bayern und Hessen jeweils 10,9 Prozentpunkte verloren. Jetzt ging es noch weiter bergab. Von ihrer einstigen Stärke ist die SPD damit meilenweit entfernt.
Es gab schon Zeiten, da holten die Sozialdemokraten im Freistaat deutlich über 30 Prozent. In Hessen blicken ältere Mitglieder seufzend auf die 1950er- und 1960er Jahre zurück. Damals war die hessische SPD stärker als die Bundespartei. Doch dann ging es bergab, seit 1999 stellt den Ministerpräsidenten einzig und allein die CDU. Am Sonntag hat die SPD im einst roten Hessen keinen einzigen Wahlkreis gewonnen.

Als Mützenich im Willy-Brandt-Haus ankommt, hat er an diesem kalten Montagmorgen zwar frische Berliner Luft inhaliert, er findet im Kreis des Spitzenpersonals aber niemanden, der frische Ideen präsentieren kann. Co-Chefin Saskia Esken fällt erneut nur ein, auf die AfD zu blicken. Deren Ergebnisse müssten wachrütteln, sagt sie. Das wirkt so, als ob die Alternative für Deutschland am Sonntag einen überraschenden Erfolg erzielt hätte. In Wahrheit ist sie ja schon lange auf der Überholspur.
Andere Parteien, die CDU und die FDP etwa, haben sich die Asylpolitik als Thema herausgesucht, um die AfD klein zuhalten. Markige Ansagen werden gemacht, Liberale wie Christdemokraten sind in eine Art Überbietungswettbewerb eingetreten, wie der Flüchtlingszuzug begrenzt werden kann. In der SPD mehren sich die Stimmen, es den anderen gleichzutun. Doch noch, das wird an diesem Tag deutlich, will die SPD-Spitze nicht auf den Populismus-Zug aufspringen. Sie hat dafür Gründe.
„Krawall bringt uns keinen Millimeter weiter“
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zieht die Auswertung der Wahlergebnisse heran. Demnach sorgten sich die Menschen zuvorderst nicht etwa um den Flüchtlingszuzug, sondern um die wirtschaftliche Lage. Im Willy-Brandt-Haus haben sie zudem genau analysiert, dass die AfD kontinuierlich dazugewinnt, seit die CDU und ihr Vorsitzender Friedrich Merz beim Thema Asyl die Rhetorik verschärften.
In Hessen hat CDU-Spitzenkandidat Boris Rhein sanftere Töne angeschlagen als sein Parteichef – und die Wahl trotzdem mit einem Stimmenzuwachs für sich entschieden. Bei einer CDU-Pressekonferenz in Berlin sagt der Ministerpräsident, die Landespartei habe sich „nicht verleiten lassen, an irgendwelchen Rändern zu fischen“. Die Schlussfolgerung für die SPD: „Krawall“, wie es einer aus der SPD-Parteispitze formuliert, „bringt uns keinen Millimeter weiter.“
Der geplante Migrationspakt, der möglichst schnell durchs Kabinett soll, ist das Äußerste, zu dem sich die Partei gerade durchringen kann. Er soll zwar schnellere Abschiebungen ermöglichen, liegt aber weit hinter den strikten Forderungen der anderen zurück.

Zu den anderen gehört vor allem Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende wird ein paar Stunden später sein Angebot zu Gesprächen mit der SPD erneuern. Der Sauerländer hat ausgerechnet, dass Tag 34 vergangen ist, seit Scholz im Bundestag den Deutschlandpakt ankündigte. Es gab danach ein Vier-Augen-Gespräch der beiden. Seitdem, sagt Merz, habe er vom Kanzler nichts mehr gehört.
Einige in der SPD wünschen sich, Scholz möge das Angebot annehmen, um in der Asylpolitik gemeinsam Zeichen zu setzen und die AfD in die Schranken zu weisen. Von außen betrachtet fehlt allerdings die Fantasie, wie das gelingen könnte. Merz sagt im Konrad-Adenauer-Haus, er werde „keinem faulen Kompromiss zustimmen“ und ergänzt: „Die Koalition hier in Berlin muss ihre Politik in wesentlichen Teilen ändern.“
Ein Oppositionsführer, der die Politik der Regierung bestimmt und dem Kanzler seine Richtlinienkompetenz nimmt? Kaum vorstellbar, dass sich Scholz darauf einlässt – sein machtbewusster Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen wird es wohl auch nicht tun.
Noch halten sie in der SPD zu Scholz. Der wird weiter seine Linie folgen, die manche als unbeirrbar, andere als stur bezeichnen. An der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser, die das schlechte Abschneiden mitverantwortet und sogar ihren eigenen Wahlkreis verlor, hält er als Innenministerin fest, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte.
Die Chance auf eine Kabinettsumbildung ist an dieser Stelle vertan, sie hätte ein Signal des Umbruchs sein können. Die Offensive, sagt Saskia Esken, sei Scholz‘ Sache nicht, und dabei werde er ihres Erachtens bleiben.
Scholz ist der festen Überzeugung, dass die Sache mit ihm gut zu Ende geht. Spätestens zur nächsten Bundestagswahl werden die Menschen schon merken, was sie an ihm und der SPD haben. Doch ob ein Weiter so ausreicht, um die Partei hinter sich zu halten?
Mindestlohn, Kindergrundsicherung – vieles vom Koalitionsvertrag ist bereits abgearbeitet. Das Gefühl der Menschen allerdings, sagt Kevin Kühnert, ist ein anderes. Was damit zu tun habe, dass die Ampel ihre Diskussionen selbst dann nicht beende, wenn ein Kompromiss gefunden wurde. „Da entsteht dann der Eindruck von Streit“, sagt Kühnert. Was er nicht sagt: Es wäre am Regierungschef, hier für Ordnung zu sorgen.