Geschichtslehrer wissen das: Es ist keine leichte Aufgabe, jungen Leuten zu erklären, warum Deutschland einmal geteilt war und wie man sich das Leben hinter der Mauer vorstellen muss. Erst recht gilt das für ein Ereignis, das 70 Jahre zurückliegt und allmählich im Nebeldunst der Geschichte zu verschwinden droht. Am 17. Juni 1953 erhoben sich die Menschen im kommunistisch regierten Teil Deutschlands und erschütterten das Regime von SED-Chef Walter Ulbricht bis ins Mark. Er wäre zweifellos gestürzt, hätte der Kreml nicht mit größter Brutalität eingegriffen. In dem Augenblick, in dem in Ost-Berlin sowjetische Panzer auffuhren, war der Aufstand beendet.
Mindestens 55 Menschen wurden damals getötet, mehr als 1500 verschwanden in den Folterkellern der Stasi. Schnee von gestern? In Zeiten des Ukraine-Kriegs klingt dieses tragische Kapitel deutscher Geschichte frappierend aktuell und müsste auch eine Generation berühren, die ansonsten eher Gendersternchen und Vier-Tage-Woche auf der Agenda hat. Dennoch gibt es keinerlei Grund für pädagogisch erhobene Zeigefinger. Auch für die älteren unter den Bundesbürgern war der 17. Juni nie ein Tag des Innehaltens oder gar ein Tag der Herzen. Zwar war er im Westen als „Tag der deutschen Einheit“ ein Feiertag, bis nach der Wiedervereinigung 1990 der 3. Oktober an seine Stelle trat. Doch abgesehen von einigen wenigen Sonntagsrednern genoss die Republik den freien Tag im schönen Juni und verschwendete keinen Gedanken an das, was hinter der Mauer lag.
Die Erinnerung an die Verbrechen des SED-Staats ist unpopulär
Bis heute ist die Erinnerung an die Verbrechen des SED-Staates in Deutschland unpopulär geblieben. In Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und anderen Ländern, die bis 1989 unter Moskaus Knute standen, gibt es Mahnmale für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft. In Deutschland wartet man bis heute darauf, obwohl sich der Bundestag 2015 dafür aussprach. An den Hochschulen gibt es mehr als 100 Lehrstühle für Genderstudien, aber keinen einzigen zur Geschichte der DDR. Das Desinteresse an den Verbrechen des SED-Regimes ist offensichtlich: Hier zeigt sich eine Spätfolge von Willy Brandts Entspannungspolitik der 70er-Jahre. Wer damals nach Mauerschützen und Gulags fragte, musste sich oft genug als kalter Krieger beschimpfen lassen. In den Salons des linken Bürgertums, vor allem aber in der Linkspartei sind die Nachwirkungen dieser Haltung bis heute zu beobachten.
Das rechte Lager ist noch schlimmer
Noch schlimmer ist das rechte Lager, wo sich eine bösartige Geschichtsvergessenheit breit gemacht hat. Die bundesdeutsche Demokratie mit dem Unrechtsregime der DDR gleichzusetzen, gehört zu den Grundmelodien, wenn AfD-Anhänger, Reichsbürger und Querdenker aufmarschieren. Da ist von „Heizungs-Stasi“ die Rede, Plakate zeigen Angela Merkel, Joachim Gauck und Robert Habeck in Honecker-Pose. Selbst vor dem Slogan „Wir sind das Volk“ schrecken die Wahlkämpfer der AfD nicht zurück. Was für eine Verhöhnung der Opfer des DDR-Regimes, was für eine Verzerrung der Realitäten. Schamloser lässt sich eine Diktatur, die Unschuldige verfolgte, Andersdenkende wegsperrte und auf Flüchtende schoss, nicht relativieren.
Auch aus diesem Grund erklärt sich, warum Kremlchef Putin mit Wohlgefallen auf Europas rechte Szene blickt. 70 Jahre nach dem Aufstand in Ost-Berlin glaubt die russische Führung erneut, durch den Einsatz von Panzern Tatsachen schaffen zu können. Was Russlands Truppen in der Ukraine anrichten, geht zwar weit über alles hinaus, was die Sowjetarmee in den Ländern zu verantworten hat, in denen sie den Ruf nach Freiheit erstickte – 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei. Dahinter steht aber dieselbe Haltung. Auch wenn die russische Trikolore Hammer und Sichel ersetzt hat, sind Russlands Machthaber immer noch davon überzeugt, es sei ihr gutes Recht, die Panzermotoren anzuwerfen und in andere Länder einzufallen, wenn die Menschen dort nicht im Sinne Moskaus spuren. Den Rechtspopulismus im Westen weiß Putin dabei auf seiner Seite, seit deutsche AfD-Politiker 2014 auf die Krim eilten, um den russischen Invasoren zu gratulieren.
Die Mehrheit will Demokratie
70 Jahre nach dem gescheiterten Aufstand in Ost-Berlin steht die Demokratie im wiedervereinigten Deutschland somit erneut unter Stress. Gerade im Osten verstehen es rechte Kräfte bestens, das ganze System in Misskredit zu bringen und die Enttäuschungen der Wendezeit in Wählerstimmen umzumünzen. Aber auch im Westen ist die Anfälligkeit für rechte Slogans groß genug. Die Sorge über diese Entwicklung ist berechtigt. Trotzdem sollte man nicht vergessen: Die Mehrheit in Deutschland will Demokratie und Rechtsstaat – damals wie heute auch.