Viele Athleten sind mit Ängsten, Befürchtungen, Sorgen und ohne die Illusion vom unbeschwerten Olympia-Festival nach Tokio gereist. Vor dem finalen Wochenende der umstrittenen Pandemie-Spiele hat sich die Bewertung gewandelt, sind aus den Vorurteilen und der großen Skepsis immer mehr Anerkennung und Lob – auch in höchsten Tönen – geworden.
Während Radprofi Simon Geschke, der wegen eines positiven Corona-Tests ins Quarantäne-Hotel umziehen musste, Tokio kaum in guter Erinnerung behalten wird, war auch Sportschütze Christian Reitz überrascht von der Atmosphäre, der viel positiveren Stimmung und der Organisation der Sommerspiele. „In vielen Bereichen haben es die Athleten vorher zu schwarz gemalt“, sagt der Olympiasieger mit der Schnellfeuerpistole von 2016, der in Tokio keine Medaille gewinnen konnte
Die besten Momente in Tokio
Das Fazit der Fans zu Hause dürfte weniger euphorisch ausfallen. Der Zeitunterschied von sieben Stunden verdrängte die Wettkämpfe aus dem Abendprogramm, ohne Zuschauer kam vor dem TV wenig Stimmung auf. Es gab sie dann aber doch, diese Augenblicke, als die widrigen Umstände egal waren, als es nur noch um Sport ging. Und das hier waren sie, die besten Momente von Olympia, zusammengefasst von unserer Sportredaktion.
1. Das Beste kommt zum Schluss
Die Sportfans hierzulande hatten bei den Public Viewings in diesem Sommer nicht viel zu feiern, schließlich verabschiedete sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schon früh von der EM. Umso schöner ist es dann, dass das Rudelgucken einer in Deutschland weitaus weniger populären Sportart pure Euphorie verströmte: Wie der kleine Saal mit 60 Zuschauern im Triberger Kino zum Tollhaus wurde, als die Triberger Ringerin Aline Rotter-Focken Gold im Freistil bis 76 Kilogramm gewann und damit auch eine Medaille in die Region holte, ist für mich das Bild dieser Olympischen Spiele.
Doch nicht nur der Erfolg an sich, sondern auch die Geschichte dahinter ist kinoreif. Eine Frau, die als Jugendliche im „Männersport“ Ringen oftmals belächelt wurde und nicht mit dem außergewöhnlichen Talent ihrer Mitstreiterinnen gesegnet ist, arbeitet sich von Jahr zu Jahr nach oben, um den größtmöglichen Erfolg zum Ende ihrer Karriere einzufahren. Das Beste kam zu Schluss. Chapeau, Aline Rotter-Focken!
- von Maurice Sauter
2. Ein Mann wie Steffi Graf

Deutsche Tennis-Triumphe waren in letzter Zeit rar gesät – bis sich Alexander Zverev in Tokio Gold holte. Es war ein historischer Sieg. Denn zwar haben Boris Becker und Michael Stich bei den Olympischen Spielen 1992 Gold im Doppel gewonnen, im Einzel haben aber weder der Boris noch der Michael einen Stich gemacht. Einzig Steffi Graf gewann 1988 in Seoul Gold für Deutschland im Einzel.

In Tokio bot schon das Halbfinale die Spannung eines Endspiels. Nach einem Rückstand zeigte der Hamburger beeindruckendes Tennis und spielte den derzeit besten Spieler, Novak Djokovic, unerwartet an die Wand. Dabei war der Serbe nach seinen Siegen bei den Australian Open, den French Open sowie Wimbledon auf dem besten Weg zum Golden Slam, dem Gewinn aller Grand-Slam-Titel sowie Olympia-Gold in einer Saison. Das schaffte bisher nur Steffi Graf. Und dank Zverev bleibt dieser Erfolg weiterhin einzigartig.
- von Maximilian Halter
3. So großartig kann Tischtennis sein
Dimitrij Ovtcharov war einer der großen Protagonisten dieser Spiele. Der Halbfinal-Thriller gegen Chinas vermeintlich unschlagbaren Ma Long ließ auch Zuschauer mitzittern, die allenfalls im Schwimmbad mal einen Ping-Pong-Schläger in der Hand halten. 9:11 verlor Ovtcharov nach fast schon irrwitzigen Ballwechseln im Entscheidungssatz.
Danach hätte er am liebsten sein sofortiges Karriere-Ende verkündet. Aus der Traum von der Goldmedaille. Wie soll man sich da noch einmal für ein Spiel um Bronze motivieren? Ovtcharov schien im Duell um Olympia-Rang drei gegen Lin Yun-Ju aus Taiwan schon geschlagen, er wehrte aber drei Matchbälle ab und sicherte sich Edelmetall.
- von Dirk Salzmann
4. 1,42 Meter klein – und doch so groß

Simone Biles sollte das Aushängeschild dieser Spiele werden. Alle blickten gespannt auf die 1,42 kleine Ausnahme-Turnerin, mehrere Gala-Auftritte wurden erwartet. Doch es kam ganz anders. Nach ihrem Ausstieg beim Team-Finale machte die 24-Jährige ihre mentalen Probleme öffentlich und verzichtete deswegen auf die Starts im Mehrkampf, am Stufenbarren, im Sprung und am Boden.
Sich Schwäche in einem solch wichtigen Karriere-Moment einzugestehen? Unfassbar stark! Die vierfache Goldmedaillen-Gewinnerin von Rio stand in Tokio zwar kein einziges Mal ganz oben auf dem Podest, dafür eroberte die US-Turnerin umso mehr Herzen. Biles hat bewiesen, dass sie nicht nur aus sportlicher Sicht ein Vorbild ist – gerade für junge Menschen. Dass sie zum Abschluss am Schwebebalken zurückkehrte und Bronze holte, krönt ihren Auftritt in Tokio. Was für eine starke Frau.
- von Julian Widmann
5. Doppel-Gold der ziemlich besten Freunde

Bei der Siegerehrung strahlten Gianmarco Tamberi und Mutaz Essa Barshim mit ihren Medaillen um die Wette. Eigentlich nichts Besonderes bei Olympischen Spielen. In diesem Fall allerdings schon, denn Tamberi und Barshim sind kein Tennis-Doppel oder ein Beachvolleyball-Duo – sie kommen aus unterschiedlichen Ländern und sind Konkurrenten im Hochsprung.
Da der Italiener und der Katarer aber auch so etwas wie ziemlich beste Freunde sind, sorgten sie für eine Premiere. Beide hatten 2,37 Meter übersprungen und dieselbe Zahl an Fehlversuchen produziert. Normalerweise ein Fall für ein Stechen um den Sieg. Barshim jedoch fragt den Kampfrichter, ob auch zwei Goldmedaillen denkbar seien. Antwort: „Das ist möglich.“ Die großen Männer, die beide in den vergangenen Jahren schwere Verletzungen erlitten hatten, schauen sich kurz an – und fallen sich in die Arme. Es folgen: Jubel, Tränen, Gänsehaut. „Eine magische Nacht“, so Tamberi. Und ein Moment für die Geschichtsbücher.
- von Ingo Feiertag
6. Der Pferdeflüsterer

Ganz ehrlich: Zum Dressurreiten hatte ich bislang ein eher unterkühltes Verhältnis. Auf der Liste meiner TV-Höhepunkte war diese „Let‘s Dance“-Version für Edel-Rösser irgendwo zwischen brasilianischen Telenovelas im Originalton und Dauerwerbesendungen auf QVC platziert.

Bis ich zum ersten Mal Carsten Sostmeier gehört habe. An meinem freien Tag, an dem die Glotze mit den Olympia-Übertragungen unbeachtet in Dauerschleife lief. Als die Reiter im Baji Koen Equestrian Park auftauchten, lag der Finger schon auf dem Aus-Knopf der Fernbedienung. Doch Sostmeiers Stimme hat mich in seinen Bann gezogen, hat mich gezwungen, die Dressur-Tortur bis zum Ende über mich ergehen zu lassen – und Spaß dabei zu haben! Mit poetischer Sprache, mit fantasievollen Wortbildern und einer hypnotischen Stimme schafft es der 61-Jährige, Begeisterung zu entfachen, wo vorher nur Ignoranz war. Wenn Sostmeier demnächst das Trocknen von frischer Farbe auf Gartenzäunen moderiert – ich bin dabei!
- von Markus Waibel