Jakob hat jetzt Augenbrauen. Ziemlich buschige sogar. Vielleicht, weil die Hormone im Körper des 18-Jährigen eine späte Pubertätsparty feiern. Schöner ist der Gedanke, dass die neue Haarpracht eine Nebenwirkung seines neuen Medikaments ist. Doch dazu später mehr. Das Familienfoto sollte also ein spezielles werden, wenn nach der Kirche die Geschenke im Hause Windl in Moos bei Radolfzell ausgepackt sind. Die Verwandtschaft hat sich angekündigt, der Heilige Abend wird traditionell mit einem Fleischfondue mit der ganzen Familie gefeiert.

Familie Windl in Weihnachtsstimmung (von links): Mama Anita mit Tochter Emma, Sohn Jakob, Tochter Lisa und Papa Michael.
Familie Windl in Weihnachtsstimmung (von links): Mama Anita mit Tochter Emma, Sohn Jakob, Tochter Lisa und Papa Michael. | Bild: Salzmann, Dirk

Vielleicht wird Papa Michael im Laufe des Abends von seinem Job als Leiter einer Eisengießerei in Kempten berichten, der die Familie seit anderthalb Jahren unter der Woche trennt. Tochter Emma könnte Anekdoten von ihrer fünfmonatigen Reise erzählen, die sie im Frühjahr durch Neuseeland und Asien führte. Ganz sicher aber wird es irgendwann um Handball gehen, denn ohne Handball geht eigentlich nichts bei Michael (58 Jahre alt), Anita (50), Emma (21), Jakob (18) und Lisa (14.).

Die ersten Jahre

Michael und Anita spielen beide Handball seit ihren Teenagertagen. Er stammt aus dem Bayerischen, sie aus Sachsen, beim HSC Radolfzell kreuzen sich in den 90er-Jahren die Lebenslinien. „Ich war eigentlich nicht sein Beuteschema“, erinnert sich Anita und grinst. Die Beziehung beginnt daher eher als Zeitspiel denn als Schnelle Mitte, aber irgendwann sind die beiden bei einer Vereinsparty alleine beieinander gesessen und haben sich unterhalten. Vier Jahre später wird geheiratet, 2003 kommt Emma auf die Welt, die in ihrem Maxi-Cosi bald am Spielfeldrand sitzt, wenn Mama oder Papa ein Spiel haben.

Familienfoto mit Zuckerstange! Die Windls freuen sich auf Weihnachten.
Familienfoto mit Zuckerstange! Die Windls freuen sich auf Weihnachten. | Bild: Salzmann, Dirk

Drei Jahre später wird aus dem Trio ein Quartett. Die Ultraschallbilder zeigen Jakob, wie er in Anitas Bauch vermeintlich am Daumen lutscht. Dass ihm die Endglieder an den Fingern fehlten, ist nicht zu erkennen. Erst bei der Geburt zeigt sich, dass Jakob eine Genmutation hat. „Vereinfacht gesagt, fehlt bei ihm zudem die Verbindung zwischen der rechten und der linken Gehirnhälfte“, sagt Anita. Weitere Komplikationen kommen dazu, dennoch kämpft sich Jakob ins Leben, übernimmt Emmas Platz im Maxi-Cosi am Spielfeldrand, jagt später selbst in der Halle dem Ball hinterher. Vielleicht etwas anders als die anderen Kids, aber mit dem gleichen Einsatz, dem gleichem Spaß, gänzlich integriert ins Vereinsleben am Bodensee.

Die Diagnose

Es ist ein Montag in der Adventszeit, als Jacobs Mutter von dessen Kindheitstagen erzählt. Er selbst sitzt zunächst schweigend am Tisch, nickt häufig, lächelt bei mancher Erinnerung, erzählt dann von seinen Jungs, die er inzwischen als Co-Trainer betreut. Wie sehr er sich freue, die Handball-Anfänger dienstags und freitags beim Training und an den Wochenenden bei den Spielen zu beobachten, wie großartig es ist, deren Fortschritte zu sehen.

Er würde selbst gerne mitspielen. Und auch wenn das wahrscheinlich nie mehr gehen wird, hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann den Rollstuhl wieder in die Ecke stellen zu können. „Jakob ist immer positiv. Er hadert nicht mit seinem Schicksal. Er nimmt die Dinge, wie sie sind“, weiß Anita um das Wesen ihres „Kleinen“, der inzwischen volljährig und längst ein Großer ist.

Die Dinge sind viele Jahre machbar. „Ich habe seine Behinderung lange verdrängt“, berichtet Anita, eben weil bei Kleinkindern die Unterschiede zu anderen Jungs nicht so auffällig sind. 2010 wird zudem Lisa geboren – völlig gesund. Jakob tobt da schon lange durch den Garten, mit anderen Kids auf dem Bolzplatz, in der Halle, geht in den Kindergarten, zur Schule – stets begleitet, ein Leben zwischen Normalität und Inklusion. Dann zeigen Untersuchungen, dass er an Fibrodysplasia ossificans progressiva (FOP) leidet. Diese Mutation führt dazu, dass der Körper Muskel- sowie Bindegewebe in Knochen umwandelt. Nicht kontinuierlich, sondern Schub für Schub verschlechtert sich sein Zustand.

Ein Sommer wird zur Hölle

Im Mai 2023 besonders schlimm, diesmal ist die rechte Hüfte betroffen. Jakob hat Schmerzen, Anita muss ihm die Socken Millimeter für Millimeter anziehen, jede Berührung tut weh. „Dieser Sommer war die Hölle“, sagt sie heute. Als Eltern mitansehen zu müssen, wie das eigene Kind vor Schmerzen nicht auf dem Stuhl sitzen kann, das sei kaum zu ertragen gewesen. „Wir sind phasenweise alle zusammen am Tisch gesessen und haben geheult.“ Selbst laufen kann Jakob nun nicht mehr, ein Rollstuhl muss her. „Wenn dem eigenen Kind, das eh schon so viel entbehren muss, das Laufen und Rennen noch genommen wird, ist das einfach nur schrecklich.“

Auszeit: Jakob bei der Teambesprechung.
Auszeit: Jakob bei der Teambesprechung. | Bild: Salzmann, Dirk

Das Vereinsleben gibt Rückhalt. Anita gehört zum Vorstandsteam des HSC Radolfzell, ist zudem Trainerin der weiblichen C-Jugend, bei der auch Tochter Lisa spielt, Emma ist bei der Frauen-Mannschaft aktiv, Michael beim Reserveteam der Herren. Kein Trainingsabend vergeht, an dem nicht mindestens ein Familienmitglied in der Radolfzeller Unterseehalle ist.

„Wir haben hier eine tolle Gemeinschaft“, ist sich die Familie einig. Eine, die keinen hängen lässt. Erst recht nicht, wenn es einem nicht gut geht. „Jakob wollte im Rollstuhl nicht mehr in die Halle, er schämte sich“, erinnert sich die Mama. Aber zu Hause bleiben, das ist keine Option. „Der Rollstuhl, das sind jetzt deine Füße“, sagen sie ihm. Und Jakob nickt. Nimmt es an, macht weiter. Manche Kinder schauen ihn verwirrt an, wenn sie das erste Mal ins Training kommen. Aber das legt sich schnell.

Pläne für die Zukunft

Jakob bleibt Optimist. Er rollt jetzt halt durchs Leben, geht täglich in den Berufsbildungsbereich der Caritas in Singen. „In zweieinviertel Jahren komme ich in die Werkstatt“, lautet sein Ziel, dafür übt er sich im Basteln, Schreiben, Konzentrieren. Bei der Geburtstagsparty der Mama bedient er bis in die Morgenstunden die Nebelmaschine. Er spielt Tischharfe in der Musikschule und in seiner Freizeit am liebsten Karten – mit seinen Schwestern, der Tante, der Oma, wer eben Zeit hat. „Jakob ist nicht nur beim HSC bekannt, sondern wurde durch seine Art auch sehr in der Schule geschätzt. Wegen dieser ihm eigenen, umgänglichen Art wird ihm auch vieles von Freunden und Bekannten ermöglicht. Er kann sich superglücklich schätzen, so viele, ihm wohlwollende Menschen zu kennen, auch außerhalb des Familienkreises. Und wir sind mega froh darüber. Danke, danke“, schreibt Anita einige Stunden nach dem Gespräch mit dieser Zeitung per WhatsApp.

Schiedsrichter? Das wäre was!

Zu Weihnachten wünscht sich Jakob Fußball-Karten für ein Bundesliga-Heimspiel des SC Freiburg, „ein Rollstuhlplatz mit gutem Blick wäre toll“. Der Sport ist eben sein steter Begleiter, wenngleich nicht alle Wünsche wahr werden können.

Als Papa Michael den Lehrgang zum Handball-Schiedsrichter beginnt, büffelt der Junior das Regelwerk mit. Die Theorie fällt ihm mitunter schwer, im Training pfeift er aber bald erste Spiele. Nicht immer korrekt, aber welcher Schiedsrichter kann das schon von sich behaupten. Die Abschlussprüfung darf er außer Konkurrenz mitschreiben, beim gemeinsamen Lehrgangsfoto der Absolventen ist er auch zu sehen.

Gemeinsam stark: Jakob und die Radolfzeller Nachwuchs-Handballer!
Gemeinsam stark: Jakob und die Radolfzeller Nachwuchs-Handballer! | Bild: Salzmann, Dirk

Offizielle Einsätze als Vater/Sohn-Duo wird es aber nicht geben. Der Rollstuhl wäre für die Spieler ein zu großes Verletzungsrisiko auf dem Feld. Jakob muss an der Seitenlinie bleiben, muss zuschauen. Da ist wohl selbst das Christkind machtlos.

Obwohl, vielleicht doch nicht. Zwar steht das „P“ in „FOP“ für progressiv, also fortschreitend, eine neue Behandlung könnte aber helfen. Seit Sommer gehört Jakob zu einer Probandengruppe, bekommt ein Medikament, das helfen soll.

Vielleicht kann das tatsächlich nicht nur Augenbrauen wachsen lassen.