Lieber Timo Boll,
ein Schupfball mit der Vorhand, dann ein zu lang gezogener Topspin, das war es! 1:3 verloren gegen den jungen Schweden Anton Källberg, Ihre Einzel-Niederlage am Dienstagabend bedeutete gleichzeitig das Olympia-Aus im Mannschaftswettbewerb gegen Schweden, weil Sie zuvor auch im Doppel mit Dang Qiu verloren hatten und Dimitrij Ovtcharov gegen Truls Möregardh ebenfalls knapp das Nachsehen hatte.
Der letzte Ball besiegelte das Ende aller Medaillenträume und das Ende ihrer internationalen Karriere. Die Schweden, Ihre Teamkollegen, alle Zuschauer in der Halle feierten Sie danach mit minutenlangem Applaus – und ich verdrückte wie wahrscheinlich noch einige Tausend andere Zuschauer einige Tränen vor dem Smart-TV.
Der Held meiner Kindheit war Jörg Roßkopf, seine Rückhandpeitsche habe ich als Jugendlicher versucht zu imitieren, bloß dass die Bälle meist an der Deckenlampe abprallten, ins Netz gingen oder unter dem Tisch endeten. Besser als Roßkopf war meiner Meinung nach damals allenfalls noch „Tischtennis-Mozart“ Jan-Ove Waldner. Irgendwann las ich dann von einem deutschen Wunderkind, wegen dem mit dem TTV Gönnern ein kompletter Bundesliga-Verein umzog, eben damit der Dreikäsehoch in der Heimat reifen konnte. Boll, Timo – Jungspund aus Höchst im Odenwald. Ich sah Videobilder von Ihnen, wie Sie als Vierjähriger im heimischen Keller spielten, kaum dass Sie über den Tisch blicken konnten. Und wie Sie gespielt haben! Und später erst, als Vierzehnjähriger! Ein Allrounder, gesegnet mit vielen Schlägen im Repertoire, die man nicht erlernen kann, für die man veranlagt sein muss. 280 Grad Sehstärke haben Sie, weshalb Sie in Sekundenbruchteilen erkennen können, in welche Richtung die kleine Aufschrift auf dem Ball rotiert. Wer weiß, welchen Effet der Ball hat, kann die geeigneten Gegenmaßnahmen einleiten – und so beherrschten Sie bald die deutsche und später über Jahre hinweg die europäische Tischtennis-Szene.
Chinesen fürchteten Timo Boll
Für mich gehören Sie in die Liste der größten deutschen Sportler. Sie waren der erste deutsche Spieler an der Spitze der Weltrangliste, haben 20 Titel bei Europameisterschaften gewonnen, die Seriensieger aus China haben Profis aus der zweiten Reihe dazu verdonnert, ihren Spielstil zu kopieren, damit sie geeignete Trainingspartner hatten. Im Reich der Mitte wurden sie gefürchtet und verehrt, auch wenn Sie nie Weltmeister oder Olympiasieger wurden. Warum? Wegen Ihres Talents, wegen Ihrer Klasse. Aber auch, weil Sie stets ein fairer Sportler waren, weil Sie im Zweifel auch zu Ihren Ungunsten den Schiedsrichter überstimmten. „Ich liebe dieses Spiel so sehr, dass ich es nicht betrügen möchte“, sagten Sie einmal in einem Interview. Das war an einem Sonntagmorgen, ich hatte bei Ihrem Manager meine Telefonnummer hinterlegt – pünktlich um zehn Uhr klingelte es und aus dem Handylautsprecher hörte ich Sie sagen: „Timo hier, passt es gerade?“
Ein Interview an einem Sonntagmorgen
Natürlich passte es. Sie sprachen von Ihrer Form, von Verletzungssorgen, der Rücken verhinderte wahrscheinlich mehrere Titel, aber auch von Ihrem Doppelleben. Der Sportstar, der in Deutschland meist unerkannt Brötchen beim Bäcker holen konnte, der in China dagegen eine Reihe von Bodyguards brauchte, weil die Asiaten bei aller Vergötterung ihrer eigenen Spieler auch diesen Deutschen extrem sympathisch fanden. Und wenn es in die Provinz ging, waren Sie manchmal der erste Europäer, den die Leute vor Ort zu sehen bekamen. Und der konnte noch besser spielen als die meisten Chinesen, obwohl Tischtennis im Reich der Mitte der Volkssport ist.
Ein Mann, zu anständig für Schlagzeilen
Nur mit einer Sache habe ich stets gehadert. Da gibt es einen Ausnahmespieler wie Sie, aber so richtig geboomt hat Tischtennis dennoch nicht. Ich weiß, Sie haben es versucht, sind auch über Ihren Schatten gesprungen, haben bei Stefan Raabs Blödeleien, wie viele Bälle man sich gleichzeitig in den eigenen Mund stopfen kann, mitgemacht, aber eigentlich waren Sie immer so brav und anständig, dass medial mit Ihnen kaum was anzufangen war.
Die Handballer hatten beispielsweise Stefan Kretzschmar, dessen Sprüche so abwechslungsreich wie seine Frise waren. Selbst Ihr Kumpel Dirk Nowitzki bot mehr Schlagzeilen – und der war schon sturzbrav. Wollte man aus Ihnen was Freches rauskitzeln, war die Antwort stets, dass Sie alles versuchen werden, dass der Bessere gewinnen soll und man eben auch Niederlagen mit Stil akzeptieren müsse. Private Skandale? Keine! Ärger mit Teamkollegen? Nein! Vereinswechsel als Profi? Ja, einen – zu Borussia Düsseldorf, als der TTV Gönnern zu klein geworden war, aber das war es auch schon.

Lieber Timo, außerhalb der Tischtennis-Szene haben Sie selten die Würdigung erfahren, die Sie meiner Meinung nach verdient gehabt hätten. Sie sind sich stets treu geblieben, ein echtes Vorbild. Typen wie Sie einer sind, gibt es viel zu selten in einer Zeit, in der meist nur die Sieger und Extrovertierten gefeiert und hochbezahlt werden. Bei allen Superlativen, die dem Sport mitgegeben werden, ließen Sie Sport eben immer Sport sein. Sie waren hochmotiviert in jeder Partie, stets ein Profi, aber Sie wussten auch, dass ein Tischtennis-Spiel in seiner Bedeutung nicht vergleichbar mit einer Operation am offenen Herzen ist. Und das gilt für alle Sportarten. Manchmal besinne ich mich in meinem Alltag darauf – und manch anderer Wichtigtuer sollte es auch tun.
Dieser Sportsgeist, was für ein Vorbild!
Der Zahn der Zeit hat auch an ihren Knochen und Muskeln genagt. Mit 43 Jahren sind Sie nicht mehr so schnell wie früher, Verletzungen heilen langsamer, die nächste Generation drängt nach, ist besser als der Boll von heute. Der Boll von damals hätte sie abgefertigt – und ihr danach Anerkennung und auch Trost ausgesprochen. Ein Gentleman eben. Zurückhaltung im Triumph, Anerkennung der gegnerischen Klasse in der Niederlage.
Noch ist nicht ganz Schluss, noch steht ein Jahr Bundesliga an. Ich hätte Ihnen einen Olympia-Abschied mit Gold gewünscht. Aber in Erinnerung hätte ich Sie so oder so wegen Ihres Sportsgeists behalten. Danke für die vielen tollen Jahre! Und viel Spaß auf der letzten Meile mit Borussia Düsseldorf!