Herr Wagner, die Schiedsrichter stehen in der Bundesliga im Fokus – obwohl es seit Jahren den Videobeweis und Video-Assistenten gibt. Ist die ständige Kritik von Trainer, Funktionären und den Medien berechtigt oder überzogen?
In Einzelfällen ist sie mit Sicherheit auch berechtigt. Einer sachlichen und fachlichen Kritik müssen sich die Schiedsrichter auch immer stellen. Leider werden aber meist nur die wenigen Fälle rausgegriffen, bei denen es nicht funktioniert. Dass der Video-Assistent den Fußball aber auch vor gravierenden Fehlern bewahrt, wird als selbstverständlich hingenommen. Wenn aber etwas nicht funktioniert hat, wird das eben extrem herausgestellt. Man geht, glaube ich, mit einem falschen Anspruch an den Video-Assistenten und den Videobeweis heran. Es kann keine hundertprozentige Gerechtigkeit geben, weil es immer Dinge gibt, die nicht zu messen sondern zu bewerten sind. Fehler werden minimiert, aber eben nicht ausgeschlossen.
Wäre es zum Beispiel eine Hilfe, wenn der Video-Assistent im Stadion, und nicht im Keller sitzen würde – was zum Beispiel Urs Meier forderte?
Wir haben den Schiedsrichter, die beiden Assistenten und den vierten Offiziellen im Stadion. Vier Leute, die die Atmosphäre im Stadion aufnehmen, die die Spieltemperatur spüren, die alles mitbekommen und das Spiel leiten. Und jetzt ist noch ein Korrektiv da, das zur Not eingreifen kann, wenn ein gravierender Fehler passiert. Diese Person ist doch viel besser beraten, wenn sie die Situation ganz in Ruhe ohne Atmosphäre mit Hilfe der Technik analysiert. Denn die Entscheidung trifft ja trotzdem nur der Schiedsrichter, der Video-Assistent hat keinerlei Entscheidungsbefugnis.

Wo sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für die Schiedsrichter und für den DFB?
Hier muss man zwei Bereiche unterscheiden. Zum einen das Tagesgeschäft, zum anderen die Weiterentwicklung. Der DFB ist da in meinen Augen in beiden Bereichen gut aufgestellt. Dem Tagesgeschäft wird enorme Beachtung geschenkt. Das ist ja auch das, was der Fußball-Konsument zurecht verlangt. Der Fußball verändert sich stetig. In den vergangenen Jahren gab es über 40 Regeländerungen. Nimmt man nur mal das Beispiel mit dem kurz ausgeführten Abstoß. Dadurch hat sich der komplette Spielaufbau verändert. Als Schiedsrichter muss ich auf so etwas reagieren, in puncto Stellungsspiel, antizipieren und vorbereitet sein. Da arbeiten die Schiedsrichter sehr professionell, da muss man sich schnell anpassen.
Und wie sieht es mit der Weiterentwicklung aus? Schließlich mangelt es ja enorm an Nachwuchs.
Es ist natürlich eine riesige Herausforderung, zukunftsfähig zu bleiben. Einmal an der Spitze, aber eben auch an der Basis. Ohne eine stabile Basis kann die Spitze nicht funktionieren. Und da fehlen uns die Schiedsrichter. Man muss sich mal eines vorstellen: In Deutschland agieren gerade einmal 6,4 Prozent der Spieler, Trainer und natürlich auch Schiedsrichter über der Kreisebene. An der Basis gilt es also anzusetzen, in dem der Schiedsrichterjob attraktiver gemacht wird. Aber das können nicht die Schiedsrichter alleine leisten, das muss die gesamte Fußballfamilie anpacken. Viele Schiedsrichter hören im ersten halben Jahr auf, weil die Zustände auf den Plätzen und der Umgang mit den Schiedsrichtern so nicht zu akzeptieren sind. Mit Gegenmaßnahmen kann zwar die Wirkung bekämpft werden, aber wir lösen so nicht die Ursache. Daher sind alle aufgerufen: Trainer, Spieler, Eltern, Fans, Schiedsrichter. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, das Miteinander funktioniert, wird es mehr Nachwuchs geben. Und das wäre wünschenswert, denn Schiedsrichter zu sein, ist attraktiv.
Warum macht es Spaß, Schiedsrichter zu sein?
Es bereichert das Leben unwahrscheinlich. Man kommt an Orte, an die man sonst nicht hingekommen wäre. Man trifft Menschen, die man nicht getroffen hätte. Man trifft Entscheidungen, lernt aber auch genauso, sich unterzuordnen. Man lernt mit Kritik und Lob umzugehen. Schiedsrichter sein ist so vielfältig und bringt gerade junge Menschen auch in der Persönlichkeitsentwicklung so viel weiter. Und trotz der negativen Dinge, die vorkommen, stehen die positiven klar im Vordergrund.
2010 mussten Sie aufgrund der Altersgrenze für Unparteiische aufhören. Durch Manuel Gräfe wurde dieses Thema in den vergangenen Jahren heiß diskutiert. Was wäre aus Ihrer Sicht eine zeitgemäße Lösung?
Die Altersgrenze ist, wenn man sie genau betrachtet, ja schon flexibel. International zum Beispiel müssen Schiedsrichter schon zwei Jahre früher aufhören, pfeifen dann aber noch in der Bundesliga weiter. Es ist der richtige Weg, sich über das Thema zu unterhalten, aber Fakt ist doch eins: Irgendwann muss ein Austausch erfolgen. Es kann ja niemand bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf dieser Liste verweilen, weil es eine gesunde Mischung braucht. Das ist wie bei einer Fußball-Mannschaft. Wenn sie überaltert ist und zu spät ein Umbruch stattfindet, fehlt danach die Erfahrung im Team. Eine gesunde Fluktuation ist auch bei Schiedsrichtern enorm wichtig. Wir haben 24 Plätze in der Bundesliga. Die müssen wir so aufteilen, dass da sowohl erfahrene Leute als auch Newcomer dabei sind.
Hätten Sie sich in Ihrer aktiven Zeit als Schiedsrichter eigentlich Hilfestellungen wie den VAR gewünscht? Oder ist das eine „Enteierung der Schiedsrichter“, wie Stuttgart-Trainer Bruno Labbadia jüngst kritisierte.
Ich hätte mir in einigen Situationen mit Sicherheit einen Video-Assistenten gewünscht. Er hätte mich vor gravierenden Fehlentscheidungen und einigen schlaflosen Nächten bewahrt (lacht). Ich glaube auch, wenn man ihn richtig praktiziert, ist es keine „Enteierung“ des Schiedsrichters, sondern eine sinnvolle Unterstützung, sozusagen ein Fallschirm. Die Entscheidung bleibt ja trotzdem beim Schiedsrichter. Die Chance eines zweiten Blicks beruhigt aber ungemein.
Bei der WM in Katar gab es plötzlich acht-bis zehnminütige Nachspielzeiten, gefühlt kam diese Entwicklung aus dem Nichts. Wie haben Sie das wahrgenommen und wie viel Extra-Zeit macht Sinn?
Das grundsätzliche Bestreben der Fifa, die Netto-Spielzeit zu erhöhen, kannte ich. Zum Beispiel beim Eishockey wird ja nur nach Nettospielzeit gemessen. Und dieser Versuch der Erhöhung wurde nun eben bei der WM beispielgebend umgesetzt, um zu zeigen, dass sich Zeitspiel nicht mehr lohnt, weil konsequent nachgespielt wird. In Zukunft wird man da sicher an einem gesunden Mittelweg arbeiten.