Herr Meier, Sie leben in Spanien, waren aber kürzlich für ein paar Tage in Südbaden unterwegs – wie kam es dazu?

Ich bin nach Deutschland geflogen, weil ich in Freiburg einen Vortrag gehalten habe. Und dann habe ich noch Frank Wilhelmsen aus Konstanz besucht, mit dem ich seit einigen Jahren gut befreundet bin.

Schiedsrichter-Legende Urs Meier (rechts) im Gespräch mit SÜDKURIER-Sportreporter Julian Widmann im Cano in Singen.
Schiedsrichter-Legende Urs Meier (rechts) im Gespräch mit SÜDKURIER-Sportreporter Julian Widmann im Cano in Singen. | Bild: Fabian Wilhelmsen

Im Amateurfußball in unserer Region häuften sich in den vergangenen Wochen Vorfälle, bei denen Schiedsrichter beleidigt oder sogar bedroht wurden. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr?

Es wird oft von einem gesellschaftlichen Problem gesprochen. Aber es ist eben auch ein Ausbildungsproblem. Wir müssen nicht nur die Spieler und Trainer schulen, sondern auch die Schiedsrichter. Was passiert da genau auf dem Platz und wie muss ich als Schiedsrichter handeln? Das Thema Gewaltprävention muss in der Ausbildung viel präsenter werden. Wie soll ein Schiedsrichter das Richtige tun, wenn er Situationen gar nicht kennt. Oftmals werden dann noch die falschen Schiedsrichter auf komplizierte Spiele angesetzt. Wenn ein Schiedsrichter für ein Spiel nicht ausreichend vorbereitet wurde, wird er gefressen. Es ist ja nicht so, dass es früher nicht hitzig und aggressiv auf dem Platz zuging. Wir müssen schauen, dass die Schiedsrichter besser darauf vorbereitet werden, Eskalationen zu verhindern. Da ist viel Luft nach oben. Wir müssen ihnen mehr helfen, sie begleiten. Dann haben die Schiedsrichter auch mehr Freude dran, und damit auch automatisch die Spieler und das Umfeld.

Warum macht es Spaß, Schiedsrichter zu sein?

Es ist einfach ein unglaublich geiles Hobby. Es bietet alles und ist das Schönste, was du machen kannst. Eine schwierige Aufgabe lösen, dass sie einfach wird. Mit deiner Art trägst du dazu bei, dass es ein schönes Spiel wird und die Spieler und Trainer gut miteinander umgehen. Und dann bewegst du dich viel, bist also gleichzeitig psychisch und physisch unglaublich gefordert. Du lernst mit Menschen umzugehen, das ist etwas Wunderbares. In jedem Spiel trifft man auf 22 neue Charaktere, die man relativ schnell einschätzen muss. Ist das einer, der das Spiel kaputt machen könnte, oder macht der das nicht. Du musst herausfinden, mit wem du kommunizieren musst, und mit wem nicht. Ich habe 883 Spiele geleitet und hatte in jedem Spiel den selben Ansatz: ein fehlerfreies Spiel. Und ich kann jetzt sagen, dass keines dabei war. Das macht es aber auch so spannend.

Urs Meier zählte zum Zeitpunkt dieses Bildes (2002) zu den besten Schiedsrichtern der Welt.
Urs Meier zählte zum Zeitpunkt dieses Bildes (2002) zu den besten Schiedsrichtern der Welt. | Bild: Imago
Das könnte Sie auch interessieren

Sie schwärmen von dieser Aufgabe. Würden Sie also auch Ihrer acht Jahre alten Tochter raten, eine Schiedsrichter-Ausbildung anzufangen?

Ja, unbedingt. Ich sage allen jungen Menschen: ‚Macht Schiedsrichter‘. Das ist die beste Lebensschulung. Aber gerade die jungen Menschen, und das ist ja bei den Fußballern das gleiche, müssen eben gut trainiert werden. Sie wollen gefördert werden und auf Leute treffen, die sie weiterbringen. Junge Schiedsrichter kommen oft in Lehrgänge mit Referenten, die keine Ambitionen mehr haben. Und das ist schade. Wir müssen sie viel mehr fördern, mehr mit ihnen unternehmen. Junge Schiedsrichter sind oftmals wie ein trockener Schwamm, die wollen alles aufsaugen. Die wollen Körpersprache lernen, die wollen wissen, wie man mit Konflikten umgeht. Aber das wird alles nicht wirklich gemacht. Wir brauchen Ausbilder, die verstehen, um was es geht. Wenn ich ein Spiel anschaue, weiß ich nach dem ersten Pfiff, ob der Schiedsrichter es kann oder nicht. Nur durch den Pfiff. Auch eine Sache, die nicht mehr geschult wird: Pfeifensprache.

Die Schweizer Schiedsrichterlegende Urs Meier beim SÜDKURIER-Gespräch im Cano in Singen
Die Schweizer Schiedsrichterlegende Urs Meier beim SÜDKURIER-Gespräch im Cano in Singen | Bild: Julian Widmann

Sie sprechen von Körper- und Pfeifensprache. Was würden Sie Schiedsrichtern generell – aber vor allem jungen Schiedsrichtern – mit auf den Weg geben?

Du musst streng sein. Die Spieler müssen sofort merken, dass du der Chef bist. Und auch wenn du nach 60 oder 70 Minuten das Gefühl hast, alles läuft wunderbar, mach die Hand nicht auf. Denn dann wirst du das Spiel verlieren. Schiedsrichter brauchen eine klare Linie. Die Hauptaufgabe ist der Schutz der Spieler vor dem Gegner, aber eben auch vor sich selbst. Es gibt viele Spieler, die du vor sich selbst schützen musst. Sogenannte Heißsporne gibt es sowohl im Amateur- als auch Profifußball zuhauf. Mit solchen Spielern musst du reden, die müssen dich spüren. Da kannst du nicht nur pfeifen, sonst wird der Spieler und später das Spiel explodieren. Du musst ihnen sagen „Hey, wenn du noch einmal meckerst oder so in den Zweikampf gehst, dann muss ich dich vom Platz stellen. Dann kann ich dich nicht mehr schützen“. Es geht nicht um Foulspiel oder kein Foulspiel, sondern um Wesentlicheres.

Was meinen Sie damit konkret?

Wir brauchen weniger Schiedsrichter und mehr Spielleiter. Ein Schiedsrichter pfeift einfach. Ein Spielleiter, und das ist das schönste Wort, der führt ein Spiel. Wenn die Spieler nicht Fußball spielen wollen, musst du die Leitplanke ganz klein machen. Dann machst du ihnen klar, dass sie vernünftig miteinander umgehen müssen, damit du mehr laufen lassen kannst. Und wenn das der Fall ist, kannst du die Leitplanken wieder weiter aufmachen.

Das könnte Sie auch interessieren

Haben Sie Angst, dass es irgendwann keinen Fußball mehr geben könnte, weil es keine Schiedsrichter mehr gibt?

Die Zahlen zeigen deutlich das Problem. Als ich vor 15 Jahren mit meinen Vorträgen begonnen habe, war die Anzahl an Schiedsrichtern schon angespannt. Und die Tendenz zeigt klar nach unten. Natürlich habe ich Angst, dass noch mehr Jugendspiele ohne Schiedsrichter stattfinden müssen. Denn das ist nicht gut. Gute Schiedsrichter fördern die Entwicklung von gutem Fußball. Wenn die Schiedsrichter schlecht sind oder nicht richtig ausgebildet wurden, stoppen sie die Entwicklung des Fußballs, und damit dieses so schönen Spiels.

Bild 4: Ex-Referee Urs Meier im SÜDKURIER-Interview: „Wir brauchen weniger Schiedsrichter und mehr Spielleiter“
Bild: Fabian Wilhelmsen

Was glauben Sie: Warum akzeptieren Spieler oft nicht, dass der Schiedsrichter – genauso wie der Ball, Rasen, Spieler, Trainer und Fans – zum Spiel dazugehört?

Die Spieler und Zuschauer haben oft das Gefühl, dass diese Rolle so einfach ist. Ich war schon immer ein Fan davon, dass die Spieler auch mal Fußball-Spiele leiten müssen. Dass sie spüren, wie schwierig das ist. Und ein Trainer, der einen Lehrgang macht, sollte genauso mal mit der Pfeife auf dem Platz stehen müssen. Denn dann entwickelt sich zwischen den Akteuren auch eine Wertschätzung. Als Schiedsrichter bist du in einer Rolle, in der du die ganze Frustration abbekommst. Denn die lässt man ja gerne am schwächsten Glied ab.

Können Sie eigentlich überhaupt ein Spiel schauen, ohne auf den Schiedsrichter zu achten?

Mittlerweile schon, früher war das nicht immer so. Da habe ich mich oft aufgeregt, wenn der Schiedsrichter zum Beispiel falsch stand. Bei der WM 2006 war ich zusammen mit Jürgen Klopp im ZDF-Studio. Markus Merk hat damals ein Spiel gepfiffen und ich habe vor mich hingesprochen: ‚Geh doch mal nach rechts, geh doch in die Aktion rein‘. Jürgen Klopp saß neben mir und hat dann irgendwann gesagt: „Sag mal, wo guckst du eigentlich hin“. Na, auf den Schiedsrichter, habe ich ihm geantwortet. Er meinte dann nur „Spinnst du, da ist fast ein Tor gefallen“.

Das könnte Sie auch interessieren

Ein ganz anderes Thema: Schiedsrichter Manuel Gräfe, der von Spielern enorm geschätzt wurde, musste altersbedingt aufhören. Wie stehen Sie zur Altersgrenze beim DFB?

Natürlich gibt es gewisse Schiedsrichter, die länger pfeifen könnten. Manuel Gräfe hätte man sicher noch ein, zwei Jahre geben können, er kommt bei den Spielern sehr gut an. Es gibt aber auch genauso Schiedsrichter, die eigentlich schon viel früher aufhören müssten. Das Problem ist, dass sich Verbände hinter der Altersgrenze verstecken können. Ich bin der Meinung, dass wir Profischiedsrichter brauchen. Im internationalen Bereich können Schiedsrichter eigentlich nicht mehr arbeiten, weil sie nur noch unterwegs sind. Wenn wir Profischiedsrichter hätten, könnten wir sie wie Profifußballer behandeln. Sprich sie bekommen immer wieder einen neuen Vertrag. Wenn sie also ihre Leistung bringen, dann sind sie dabei. Ein Lewandowski wird bei Bayern in drei Jahren ja auch nicht altersbedingt rausgeworfen, solange er noch trifft. Aber da braucht es eben Leute, die sich hinstellen und sagen: ‚Du bist zwar erst 43, aber es reicht nicht mehr.“ Dann bräuchte man kein Alterslimit.