Dieser Treffer von Niclas Füllkrug gegen die Schweiz in der Nachspielzeit zum 1:1 weckt Erinnerungen an das Tor von Oliver Neuville gegen Polen bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Es war seinerzeit der eigentliche Startschuss des Sommermärchens. Der Moment, in dem die Euphorie erst so richtig entfacht wurde. Der eingewechselte David Odonkor nutzte damals sein Tempo über die rechte Seite und fand mit seiner Hereingabe den ebenfalls von der Bank kommenden Neuville, der den 1:0-Sieg sicherte und ein Land in einen Ausnahmezustand versetzte.
Anders – und trotzdem Parallelen
Nun, 18 Jahre später, war es am Sonntagabend in der Frankfurter Arena eigentlich ganz anders. Nicht gegen Polen, sondern gegen die Schweiz. Nicht das zweite, sondern das dritte Vorrundenspiel. Nicht das Siegtor, sondern „nur“ das Verhindern einer Niederlage. Keine WM, sondern eine EM. Zudem war der Einzug ins Achtelfinale ja schon sicher.
Und doch fühlte sich dieser Moment ein bisschen nach einem Déjà-vu an. Weil dieser Treffer ähnlich emotional war, weil es ein Punkt der Moral und der Leidenschaft war, weil dieses Tor nach einer Leistung mit Licht und Schatten irgendwie erzwungen schien und aus psychologischer Sicht für den weiteren Turnierverlauf noch enorm wertvoll werden kann.
Parallelen gibt es zudem ja durchaus: Schließlich wurden Vorlagengeber David Raum als auch Torschütze Füllkrug wie das Duo Neuville/Odonker eingewechselt, wieder war der Ausgangspunkt eine Flanke von der Außenbahn, wieder wurde das Tor sowohl von der Mannschaft als auch von den deutschen Fans frenetisch gefeiert.
Füllkrug lobt Raum
Julian Nagelsmann dachte beim Füllkrug-Tor aber nicht an das Sommermärchen 2006, wie er nach dem 1:1 gegen die Schweiz meinte. Zu emotional war das Ereignis „im Hier und Jetzt“. Auch Füllkrug wollte nicht so richtig einen Vergleich ziehen, lenkte ab und sprach lieber in den höchsten Tönen über den Vorlagengeber: „David ist ein absoluter Flankenspieler. Dass ich im Kopfball gut bin, das wissen wir. Die Flanke ist aber auch perfekt. Es hat einfach viel gepasst, das freut mich einfach“, sagte der Angreifer von Borussia Dortmund. Der Punktgewinn habe laut Füllkrug eine große Bedeutung: „Wir wollten die Gruppe unbedingt als Erster beenden. Ob du Gruppenerster oder Zweiter wirst, kann entscheidend sein. Im Nachhinein wird das mit Sicherheit ein Knackpunkt-Spiel gewesen sein.“
Nagelsmann hob nach dem Unentschieden, durch welches sich die DFB-Auswahl den Gruppensieg sicherte, den besonderen Geist im Team hervor. Raum zum Beispiel kam nach einer Stunde für den an diesem Tag glücklosen Maximilian Mittelstädt, brachte frischen Schwung in die Partie. „Nach dem Tor geht Maxi zu David und feiert ihn ab für seine Flanke“, sagte der Bundestrainer über seine beiden Linksverteidiger, die sich in den K.o-Spielen um einen Platz duellieren könnten.
„Freud und Leid zugleich“
Lob gab es vom Bundestrainer natürlich für seine beiden Garanten Raum und Füllkrug: „Der eine kann gut flanken, der andere gut köpfen“, sagte Nagelsmann, angesprochen auf den Treffer in der Nachspielzeit, den der Bundestrainer als „extrem anspruchsvolles Tor“ beschrieb. Dennoch wollte der 36-Jährige seinem Stürmer, der einmal mehr seine Torgefahr im Dress des Nationalteams unter Beweis stellte, keine Einsatzgarantie für das Achtelfinalspiel geben – Gegner wird der Zweite der Gruppe C, was alle vier Teams (England, Dänemark, Slowenien und Serbien) noch werden können.
„Für ihn ist das Freud‘ und Leid zugleich, dass er die Rolle als Joker so toll erfüllt“, sagte Nagelsmann, der aber auch mit dem bei einigen Experten in der Kritik stehenden Kai Havertz zufrieden war. „Die hat er, die hat Kai (Havertz) genauso“, sagte der Bundestrainer zur Startelf-Perspektive im Sturm für das Spiel am Samstagabend in Dortmund.
Egal ob Füllkrug beim Achteifinale von Beginn an auflaufen wird oder nicht: Der 31-Jährige fügt sich ein, akzeptiert seine Rolle, wirft alles rein. Und der Hannoveraner ist es gewohnt, zu warten. Schließlich gab er erst im November 2022 sein Debüt im Dress des DFB. Ein Spätzünder, der sich in der Mannschaft aber unglaublich schnell Respekt verschaffte.
Und einer, der bei großen Turnieren abliefert. Schon bei der WM in Katar hatte er gegen Spanien den späten Ausgleich sehenswert erzielt. Doch damals war nach der Gruppenhase ja bekanntlich Schluss. Diesmal geht die Reise auf jeden Fall weiter – und vielleicht sorgt Füllkrug ja bei dieser EM für ein weiteres, schönes Sommermärchen-Déjà-vu.