Vielen Japanern dürfte der Anblick nicht gefallen haben. Als der Mann mit dem grimmigen Gesicht, versteckt hinter Mundschutz und Basecap, über die Gänge des Sicherheitstrakts ging, stand er am Ende in der frischen, freien Luft von Tokio. Reportern gegenüber beteuerte er zuletzt immer wieder seine Unschuld. Für ihn, Carlos Ghosn, den Ex-Chef der Autobauer Renault und Nissan, sind die vergangenen 108 Tage in Haft ein Skandal. Für die Staatsanwaltschaft hingegen ist Ghosns Freilassung gegen eine Kaution in Höhe von 8 Millionen Euro ein Riesenproblem, schließlich bestehe Fluchtgefahr. So oder so: Ein großes Ding ist die Freilassung des einstigen Managers allemal.

Berichte über obszönen Reichtum

Denn der Fall Ghosn dokumentiert nicht nur, wie harsch in Japan einstige Helden in Ungnade fallen können, sondern womöglich auch, wie die Justiz hieran Anteil hat. Als Ghosn im November mit Verdacht auf Veruntreuung und Steuerhinterziehung in Höhe von 38,8 Millionen Euro festgenommen wurde, dauerte es nur kurz, bis aus einem Business-Popstar ein vorverurteilter Krimineller wurde. Ghosns Festnahme trat eine Welle von Berichten über dessen obszönen Reichtum los, von Villen in Paris, Rio, Amsterdam und anderswo.

Als Gierhals verrufen

Schnell wurden in der Debatte Gier und Gesetzesbruch in einem Atemzug genannt. Immerhin war Ghosn schon länger wegen seiner hohen Saläre aufgefallen. Für seine Posten bei Renault, Nissan und ab 2016 auch Mitsubishi kassierte er 20 Millionen Euro im Jahr. So ist tatsächlich schwer von der Hand zu weisen, dass Ghosn ein Gierhals ist.

Justizsystem in der Kritik

Nur war mit seiner Verhaftung auch schon sein rechtliches Vergehen quasi besiegelt. Denn in Japan ist eine Verhaftung fast gleichbedeutend mit einer Verurteilung: In 99 Prozent der Fälle kommt es zu einem Schuldspruch. Und fast nie werden Festgenommene auf Kaution freigelassen, sofern sie nicht gestanden haben. Bei Ghosn ist dies nun anders. Dem dritten Gesuch auf Freilassung gab das Gericht statt, weil doch keine Fluchtgefahr bestehe. Nun will sein Anwaltsteam in die Offensive gehen und damit auch das Justizsystem anprangern. Dies wird derzeit wieder verstärkt kritisiert. Stephen Givens etwa, Juraprofessor in Tokio, ist überzeugt, dass die Vorwürfe gegenüber Ghosn nach japanischem Recht keine Gefängnisstrafe rechtfertigen würden.

Schon zuvor schwere Vorwürfe

In den Augen der Staatsanwaltschaft wiederum könnte das wahre Vergehen Ghosns nicht Raub, sondern Gier gewesen sein. Dies glaubt jedenfalls Tomohiro Ishikawa. Als Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei wurde er 2010 wegen Bestechlichkeit angeklagt. Nach drei Wochen Haft und täglich zwölf Stunden Verhörs machte er schließlich ein abgeschwächtes Geständnis, wurde zu zwei Jahren verurteilt. „Sie zwingen einen zu dem Geständnis, das ihren eigenen Vorstellungen entspricht“, sagte Ishikawa.

Angeblich politisch motiviert

Falls Ghosn Ähnliches berichtet, könnte Japans Justiz in Verruf geraten. Dann wäre auch das Ansehen der Staatsanwaltschaft beschädigt. Laut Ishikawa sehen sich die Staatsanwälte heute, in Zeiten steigender ökonomischer Ungleichheit in Japan, zudem politisch motiviert. „Sie wollen einen Namen haben als Institution, die die Reichen zur Strecke bringen.“