Frau Glienke, die Krankenhäuser kämpfen mit der Corona-Krise. Haben Sie eine Prognose, wie sich die Lage entwickeln wird?
Wir haben im Moment die bekannten Probleme mit nicht vorhandenen Atemmasken und Schutzbekleidung sowie einen rapide steigenden Bedarf an intensivmedizinischer Ausrüstung, etwa für die Beatmung von Patienten. Wir laufen aber in ein viel größeres Problem hinein.
Welches?
Aktuell besteht die Gefahr von Engpässen bei sehr vielen Medizinprodukten, vom Verbandsmaterial und Spritzen über Prothesen und Blutdruckmessgeräte bis hin zu Operationsrobotern. Die Europäische Kommission hat gestern angekündigt, Abhilfe zu schaffen, aber sicher ist das noch nicht.

Worin besteht das Problem konkret?
Gemäß der EU-Verordnung sollten zahlreiche Medizinprodukte in Europa bis Ende Mai 2020 neu zertifiziert und damit zugelassen werden müssen. Außerdem ist die Zahl der Institutionen und Behörden, die Medizinprodukte in der EU zertifizieren dürfen, im Vergleich zu früher dramatisch gesunken. Viele wollen oder können den Weg nicht mitgehen. Früher gab es etwa 80 Prüfstellen in Deutschland – und jetzt sind noch zwölf übrig, und zwar in der ganzen EU. Bereits seit geraumer Zeit kommen diese Prüfer mit der Neu-Zertifizierung von Tausenden Produkten nicht hinterher.
Aber die EU hat doch den Prüfern nun ein Jahr mehr Zeit gegeben, oder?
Ja, dass die EU-Kommission angekündigt hat, das Inkrafttreten der entscheidenden EU-Verordnung über Medizinprodukte um ein zu Jahr zu verschieben, ist ein wichtiges Signal. Dennoch bleibt die Lage angespannt, insbesondere, da der Corona-Effekt nun hinzukommt.
Inwiefern?
Die Pandemie hat in den vergangenen Wochen auch die Prüfstellen lahmgelegt. In Italien sind manche ganz geschlossen worden. Hierzulande arbeiten bei Institutionen wie dem TÜV oder der Dekra, aber auch in den zuständigen Behörden Mitarbeiter im Homeoffice oder unterliegen Quarantänebedingungen. Sie können in vielen Fällen schlicht nicht mehr zu den Herstellern fahren, um Akteneinsicht zu nehmen oder Audits durchzuführen. In den vergangenen Tagen hat man sich mit Videokonferenzen beholfen, in denen Datenblätter in die Kameras gehalten wurden, aber das funktioniert so natürlich nicht. Die bereits zu erwartenden Zulassungsengpässe für Medizinprodukte werden sich durch die Corona-Pandemie daher noch einmal drastisch verschärfen, wenn das EU-Parlament und der Rat dem Vorschlag der Kommission nicht zustimmen.
Mit welchen Folgen rechnen Sie?
Wir bei Medical Mountains haben zusammen mit einem anderen Medizintechnik-Verband eine Umfrage unter Unternehmen vorgenommen. Die Firmen schätzen, dass etwa ein Drittel ihrer Bestandsprodukte nicht mehr rechtzeitig zugelassen werden kann. Damit können sie nicht mehr verkauft und bei OPs in Arztpraxen oder Krankenhäusern eingesetzt werden. Einschnitte wird es vor allem bei Produkten für die Chirurgie, Orthopädie, im Bereich von bildgebenden Verfahren wie MRTs und bei Implantaten geben.

Das würde ja einen Zusammenbruch des Krankenhaussystems bedeuten?
Deswegen muss die Politik jetzt schnell reagieren. Die Prüfinstitutionen müssen Zeit haben, ihre Kapazitäten wieder hochfahren zu können und sicherzustellen, dass alle Medizinprodukte ohne Verzögerung auf den Markt gebracht werden können. Dass die Politik jetzt reagiert hat, zeigt, dass unser offener Brief mit entsprechenden Forderungen, den wir diese Woche an EU, Bund und Land verschickt haben, Wirkung gezeigt hat. Wir dürfen das Gesundheitssystem jetzt nicht auch noch dieser Doppelbelastung aussetzen. Es ist ja nicht so, dass das Skalpell schlechter schneidet, nur weil es noch nicht neu zertifiziert wurde.
Wie geht es den Medizintechnik-Firmen im Großraum Tuttlingen?
Die Lage ist heterogen. Manche Unternehmen profitieren von der Corona-Krise, da sie Produkte herstellen, die gerade dringend gebraucht werden. Viele aber haben herbe Rückgänge bei Neuaufträgen zu verzeichnen.
Mit VW hat ein erster Autobauer angekündigt, in die Medizintechnik einzusteigen, weil die Autonachfrage einbricht. Wie verändert das den Markt?
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn branchenfremde Firmen nun versuchen, Engpässe in bestimmten Bereichen durch eigene Produktion abzufedern. Der Textilhersteller Trigema, der ja jetzt Mundschutz herstellen will, ist auch so ein Beispiel. Und auch hiesige Unternehmen springen ein, so gut es geht. Es muss aber klar sein, dass hier auch die gleichen Regeln gelten wie für die etablierten Hersteller.
Warum folgen nicht mehr Firmen dem Beispiel von VW? Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat das ja jüngst gefordert...
Das geschieht doch schon. Es melden sich immer mehr Unternehmen bei uns, die bislang nicht oder kaum in der Medizintechnik tätig waren. Sie sind bereit, ihre Produktion umzustellen, um Komponenten für Beatmungsgeräte oder Schutzausrüstung herzustellen. Wir stehen in Abstimmung mit den Behörden, wie dies schnell geschehen kann, und veröffentlichen die Angebote auf unserer Webseite. Hier haben wir eine Drehscheibe eingerichtet, bei der Angebote und Gesuche eingestellt werden können. Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend.