Rolf Obertreis

Er ist seinem Kurs bis zum Schluss treu geblieben. Auch in der letzten Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB), die von Mario Draghi als EZB-Präsident geleitet wurde, bekräftigten die Währungshüter ihre ultralockere Geldpolitik: Der Leitzins im Euroraum bleibt auf dem Rekordtief von null Prozent, Banken müssen weiter 0,5 Prozent Negativzinsen zahlen, wenn sie überschüssige Gelder bei der EZB parken, und ab November kauft die Notenbank Anleihen für monatlich 20 Milliarden Euro. Nächste Woche übergibt Draghi die EZB-Spitze dann an seine Nachfolgerin Christine Lagarde.

Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main. | Bild: Frank Rumpenhorst, dpa

Doch wie wird seine Amtszeit gesehen? Wird Mario Draghi als Schrecken der deutschen Sparer oder als Retter der Eurozone in die Geschichte der Europäischen Zentralbank eingehen? Eins ist jedenfalls sicher: Als EZB-Präsident hat er polarisiert. Nullzins, Strafzins für Banken, Anleihenkäufe – Draghi zog im Kampf gegen Mini-Inflation und Konjunkturflaute alle Register.

Großes Lob zu Beginn

Bei seinem Amtsantritt 2011 wurde der damals 64-jährige Italiener noch mit Lob überhäuft. Seine Arbeit werde von Erfolg gekrönt, sagte sein Vorgänger an der EZB-Spitze, Jean-Claude Trichet. Der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nannte den einstigen Chef der italienischen Notenbank „sehr souverän, sehr ruhig und fachlich exzellent“. Der Glanz schwand, je stärker 2012 die Euro-Krise ihren Lauf nahm. Draghi senke übereilt die Zinsen, pumpe Milliarden in Banken und marode Staaten, hieß es. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann wurde zu einem der schärfsten Kritiker.

Wendepunkt in der Euro-Krise

Draghi ließ sich nicht beirren und sprach im Juli 2012 den Satz, der immer mit ihm verbunden bleibt: „Whatever it takes.“ Die EZB tue alles, um den Euro zu retten. Es war der Wendepunkt: Draghis Machtwort stabilisierte die Eurozone in der tiefsten Krise ihrer jungen Geschichte.

Zins seit 2016 bei null

In der Folge reihte die EZB eine Zinssenkung an die andere. Seit März 2016 steht der Leitzins bei null. Schon im Juni 2014 hatte sie den Zins für Einlagen der Banken mit minus 0,1 Prozent ins Negative gedrückt. Zudem zauberte Draghi unkonventionelle Maßnahmen aus dem Instrumentenkasten der EZB: 2015 startete die Notenbank etwa ein beispielloses Programm zum Kauf von Anleihen der Eurostaaten. Bis Ende 2018 erwarb sie Staatspapiere für mehr als 2,6 Billionen Euro. Weidmann sah die EZB an der Grenze zu unerlaubter Staatsfinanzierung.

Nie warm geworden

Doch auch die immer heftigere Kritik aus der Politik, von Banken und Sparkassen beeindruckte Draghi nicht. Von „Europas letztem Alleinherrscher“ war die Rede. Von „Selbstherrlichkeit“ und „Gefallsucht“. Bank- und Sparkassenmanager sind nach wie vor über die Null- und Negativzinsen empört, Sparer in Deutschland sauer, weil ihr Erspartes nach Abzug der Inflation sogar schrumpft. Politiker in Berlin toben. Die Deutschen sind mit dem Italiener nie warm geworden.

Deutschland nicht geschadet

Dabei hat Draghis Politik Deutschland vordergründig nicht geschadet: Die Preise sind seit 2011 stabil, die Staatsverschuldung ist so niedrig wie lange nicht mehr. Die Konjunktur lief bis 2018 rund, die Arbeitslosigkeit zeigt nach unten. Dass die Konjunktur jetzt stottert, liegt vor allem an Handelskonflikten und dem Brexit.

Rückhalt von Ökonomen

Und so gibt es auch viel Lob von Ökonomen. „Eurozone vor dem Abgrund gerettet, geldpolitische Werkzeugkiste erweitert, Konjunktur stabilisiert“, sagt Carsten Brzeki, Chef-Volkswirt der ING. „Deutschland ist nicht Verlierer der Niedrigzinspolitik der EZB, sondern unser Land ist einer der Gewinner“, stellt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, fest. Und selbst Axel Weber, der aus Verärgerung über die EZB-Politik 2011 als Bundesbank-Präsident zurückgetreten war, sagt: „Er hat den Euro stabilisiert.“

Überzeugter Europäer

Aber die Kritiker werden lauter. Überzogen habe die EZB, die schädlichen Folgen der Niedrigzinsen würden immer sichtbarer – hierzulande die Schröpfung der Sparer und die aus dem Ruder laufenden Immobilienpreise. Von Gefahren für die Finanzstabilität ist die Rede. Commerzbank-Chef-Volkswirt Jörg Krämer spricht von „einem Arzt, der bei jedem Schnupfen Antibiotika verschreibt“. Der Italiener ist der erste EZB-Chef, in dessen Amtszeit die Zinsen nur eine Richtung kannten: nach unten. Als überzeugter Europäer glaubte Draghi, richtig zu handeln. Ständig kritisierte er die Regierung seines Heimatlandes wegen der laschen Finanzpolitik. Wie er generell die Unterstützung der Euroländer vermisste. Denn die Geldpolitik allein kann die Probleme nicht lösen. Andererseits habe sie den Reformwillen der Politik mit dem billigen Geld gebremst, sagen viele.

Christine Lagarde, die Nachfolgerin von Draghi an der EZB-Spitze.
Christine Lagarde, die Nachfolgerin von Draghi an der EZB-Spitze. | Bild: Saul Loeb, AFP

Auch in der EZB werden inzwischen kritische Stimmen laut – zum Ende von Draghis Amtszeit rumort es im Rat der EZB. Auf der Sitzung Mitte September stimmten, so heißt es, mindestens zehn der 25 Mitglieder gegen die Wiederaufnahme der Anleihekäufe. Und damit auch gegen den 72-jährigen Präsidenten. Dennoch dürfte sich auch nach dem Ausscheiden Draghis an der Nullzinspolitik so schnell nichts ändern: Seine Nachfolgerin an der EZB-Spitze, die bisherige Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, machte deutlich, dass sie eine lockere Geldpolitik auf absehbare Zeit weiter für nötig hält. Gleichzeitig betonte die 63-Jährige aber auch: „Wir müssen die negativen Folgen und Nebeneffekte im Blick behalten.“ Immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer für alle Sparer.