Über Arbeitsmangel kann sich Tommy Buschle gerade nicht beschweren. Wenn er Abends die Tür seines Friseursalons in Waldshut-Tiengen zuschließt, setzt er sich vor seinen Rechner, schreibt E-Mails oder nimmt Erklär-Videos fürs Internet auf. Darin zeigt er seinen Handwerker-Kollegen, warum es sich lohnt, wählen zu gehen.

Buschle geht es nicht um die die Bundestags- oder EU-Wahlen. Seit rund zwei Monaten legt sich der Friseurmeister fast jeden Abend krumm, um Kandidaten für das Handwerker-Parlament in Konstanz zu mobilisieren. In diesem werden ab Herbst die grundlegenden Entscheidungen der kommenden fünf Jahre für rund 13.500 Handwerks-Betriebe mit 70.000 Beschäftigten in fünf Landkreisen im Süden Baden-Württembergs getroffen.

Wer Veränderung will, muss wählen

„Es ist erschreckend“, sagt der 63-Jährige. „Es gibt Handwerker-Kollegen, die sind seit 25 Jahren im Beruf und haben noch kein einziges Mal ihre Standesvertretung gewählt“. Dabei seien viele unzufrieden, mit dem, was in der Kammer abläuft. „Die haben die Nase voll“, sagt er.

„Aber wenn sie nicht wählen gehen oder sich als Kandidaten für die Vollversammlung aufstellen lassen, dann ändert sich eben nichts.“

Frisörmeister Buschle ist in der Handwerkerschaft ein bunter Hund. Einige nennen ihn einen „Kammer-Rebellen“. Und ein bisschen schmeichelt ihm das. Seine Erklär-Videos zur Wahl der Vollversammlung auf der Plattform Youtube unterlegt er gerne mit Rockmusik, und wenn seine Lieblings-Kicker vom VfB Waldshut am Wochenende eine Klatsche kassieren, dokumentiert er seinen Frust mit harten Gitarren-Riffs, die er direkt ins Internet versendet. „Ich will die Leute aufrütteln“, erklärt Buschle, seine fürs konservative Handwerk unkonventionelle Herangehensweise.

Friseur, Rockfan und Kammerwahl-Anfechter: Tommy Buschle in seinem Salon in Waldshut-Tiengen
Friseur, Rockfan und Kammerwahl-Anfechter: Tommy Buschle in seinem Salon in Waldshut-Tiengen | Bild: Nico Talenta

Vielleicht steckt das Rebellische den Handwerkern entlang der Schweizer Grenze aber auch im Blut? Nirgends in Deutschland sind die Kritiker des Kammersystems, in dem sich die Branche traditionell organisiert und selbst verwaltet, aktiver als im Gebiet der Handwerkskammer Konstanz.

Deren Sprengel erstreckt sich von der Bodenseestadt den Rhein abwärts bis Waldshut und nach Norden bis Tuttlingen und Rottweil am Rand des Schwarzwaldes.

Einzigartige Konstellation im Kammerbezirk Konstanz

Seit 2004 ist es den Kammer-Rebellen bisher bei jeder Wahl zu einer Handwerker-Vollversammlung gelungen, eine eigene Wahlliste aufzustellen, um der von Innungsfunktionären und Vertretern der Kreishandwerkerschaften getragenen etablierten Liste eine Alternative entgegenzuhalten.

Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des Bundesverband für freie Kammern, verfolgt das Geschehen in IHKs und Handwerkskammern bundesweit. ...
Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des Bundesverband für freie Kammern, verfolgt das Geschehen in IHKs und Handwerkskammern bundesweit. Süddeutschland ist Rebellen-Land, sagt er. | Bild: Ole Spata/dpa

Branchenintern gilt der Süden Baden-Württembergs als Landstrich des Aufrührertums. „Das, was seit zwei Jahrzehnten im Gebiet der Handwerkskammer Konstanz passiert, ist bundesweit beispiellos“, sagt Kai Boeddinghaus, Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands für freie Kammern (BffK). In der Geschichte der Handwerker-Organisation seit Ende des zweiten Weltkriegs, habe es Vergleichbares noch nirgends gegeben.

Wenn sogar das Scheitern ein Erfolg ist

Indes: Trotz unermüdlichen Engagements für mehr Mitbestimmung ist es den Kammer-Kritikern aus Südbaden nie gelungen, ins Konstanzer Handwerker-Parlament einzuziehen. Glaubt man Buschle und Boeddinghaus liegt das am Wahlsystem, das den Namen demokratisch nicht verdiene.

BffK-Geschäftsführer Boeddinghaus sagt, das Wahlrecht sei so komplex und einseitig, dass echte Wahlen faktisch verhindert würden. Buschle meint, am Ende bestimmten fast immer die Interessen eines kleinen Teils von Handwerks-Funktionären über das Schicksal der Mehrheit der Mitgliedsfirmen.

Wie demokratisch ist das Kammer-Wahlrecht?

Wer das verstehen will, muss einen Blick auf das Wahlsystem werfen. Anders als etwa bei Bundestagswahlen, wo eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht die einzelne Wählerstimme im Parlament möglichst exakt abbilden soll, heißt es bei den Wahlen zur Handwerker-Vollversammlung: Der Stärkste bekommt alles!

Gewählt werden keine Personen, sondern Listen. Wessen Name auf der Wahlliste mit den meisten Stimmen steht, hat das Ticket in die Vollversammlung. Die Handwerker auf den unterlegenen Listen, bleiben außen vor. Sie gelten als nicht gewählt, auch wenn ihre Liste nur denkbar knapp abgeschlagen ist.

Wie funktionieren Vollversammlungswahlen?

Friseurmeister Buschle und seinen Mitstreitern ist das in den vergangenen Jahren gleich mehrfach passiert. Zwei Mal – bei den Wahlen 2014 und 2019 – schrammte ihre Alternativ-Liste nur um Haaresbreite am Erfolg vorbei. Jedes Mal hätten rund 200 Stimmen gefehlt, um die etablierte Liste zu schlagen, sagt Buschle. Bei 13.500 wahlberechtigten Handwerksbetrieben im Kammerbezirk ist das denkbar knapp.

In seiner Freizeit oft auf dem Fußballplatz seines Heimvereins VfB Waldshut: Tommy Buschle.
In seiner Freizeit oft auf dem Fußballplatz seines Heimvereins VfB Waldshut: Tommy Buschle. | Bild: Scheibengruber, Matthias

Dass Buschle und seine Mit-Rebellen den Bettel nicht längst frustriert hingeworfen haben, liegt auch daran, dass sie von Gleichgesinnten bundesweit sogar für ihre Misserfolge gefeiert werden. Der Grund: In den übrigen 52 Handwerkskammern Deutschlands gelingt es nicht einmal, alternative Listen aufzustellen und so den Wahlprozess in Gang zu bringen.

„Vor den Kollegen ganz im Süden habe ich höchsten Respekt“, sagt BffK-Bundesgeschäftsführer Boeddinghaus. „Auch, wenn sie bisher immer gescheitert sind.“ In den vielen Jahrzehnten seit Bestehen des Handwerkskammer-Systems habe es geschätzt nur „etwa zehn Versuche gegeben, konkurrierende Handwerker-Listen aufzustellen“, sagt der BffK-Mann. Das zeige, wie eingefahren und abgeschottet das System ist.

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Dafür verantwortlich ist neben dem offensichtlichen Desinteresse vieler Handwerker an berufsständischen Wahlen – die Wahlbeteiligung liegt Experten zufolge selten über zehn Prozent – seiner Meinung nach der Wahlmodus.

Um eine Wahl-Liste überhaupt aufzustellen, müssen sich im Fall der Handwerkskammer Konstanz zunächst 78 Handwerkerinnen oder Handwerker finden, die Lust auf den ehrenamtlichen Job haben. Diese müssen sich nach bestimmten Schlüsseln auf sechs Gewerke verteilen.

Und sie müssen Meister oder ausbildungsberechtigt sein. In anderen Handwerkskammern müssen die Kandidaten zusätzlich aus geografisch unterschiedlichen Bereichen stammen. Die Vielzahl an Einschränkungen bei der Aufstellung einer Liste berge von vorneherein die Gefahr zu scheitern – zumal für Laien, sagt Boeddinghaus.

Aufstellung der Wahllisten als Spießrutenlauf

Buschle kann das bestätigen. „Ohne Budget und auf sich allein gestellt, ist das ein Spießrutenlauf“, sagt er. Daher fordert er mit seiner Liste Namens „Freie Handwerker für Kammer ohne Zwang“ eine Reform des aus seiner Sicht überkommenen Wahlsystems. Alles müsse direkter und einfacher ablaufen. In die Vollversammlung müsse endlich eine Opposition einziehen, die Dinge auch kritisch hinterfrage, sagt er. Es könne nicht sein, dass dort nur Handwerker-Funktionäre den Ton angäben.

Führungsteam der Handwerkskammer Konstanz und des Kreishandwerks: Von links: Georg Hiltner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer ...
Führungsteam der Handwerkskammer Konstanz und des Kreishandwerks: Von links: Georg Hiltner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz, Kreishandwerksmeister westlicher Bodensee Hansjörg Blender und Werner Rottler, Präsident der Handwerkskammer Konstanz. Die HWK vertritt mehr als 70.000 Beschäftigte im Süden Baden-Württembergs. | Bild: Kreishandwerkerschaft Westlicher Bodensee

Von der HWK in Konstanz heißt es, die Listenwahl zur Vollversammlung finde in „freier, gleicher und geheimer Wahl“ statt. Elementare Werte der Grundgesetzes seien in dem Prozess verankert. Eine Wahlrechtsreform könne, wenn überhaupt, nur durch „den Bundesgesetzgeber“ erfolgen, nicht durch eine einzelne Kammer.

Das wollen die Rebellen: Kampf gegen Pflichtbeiträge

Friseur Buschle ficht das nicht an. Ihm geht es um mehr als das Wahlrecht. Die Pflichtmitgliedschaft der Betriebe in der Kammerorganisation ist ihm ein Dorn im Auge. Die damit verbundenen Pflichtbeiträge lehnen er und seine Mitstreiter vehement ab. „Auch deswegen müsse man den Sprung in die Vollversammlung schaffen“, sagt er.

Das es der Waldhuter Friseur-Meister mit seinen Wahl-Ambitionen ernst meint, weiss man spätestens seit 2019. Seit damals läuft vor dem Freiburger Verwaltungsgericht eine Wahlanfechtungsklage des 63-Jährigen gegen die HWK. In ihr zieht Buschle die Rechtsgültigkeit der letzten Vollversammlungswahlen in Zweifel. Für den 19. Juni ist eine Verhandlung in der Sache angesetzt.

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In der Zwischenzeit versucht der selbstständige Handwerker neue Mitstreiter hinter seiner Rebellen-Liste zu versammeln um den Etablierten in der Kammerorganisation das Fürchten zu lehren. „Zehn bis 15 Handwerker“ brauche er noch, um die Liste voll zu kriegen, sagt der Hobby-Rockmusiker. „Dieses Mal muss es einfach klappen“, sagt er.

Transparenzhinweis: Tommy Buschle ist freier Mitarbeiter des SÜDKURIER für Sport am Hochrhein. Auf den Inhalt dieser Berichterstattung hat das keinen Einfluss.