Hat ein Vater seine Tochter über Jahre missbraucht und vergewaltigt? Diese Frage wird das Landgericht Waldshut-Tiengen voraussichtlich länger beschäftigen als ursprünglich geplant.
Vor Gericht steht ein 45-jähriger Mann. Der Angeklagte muss sich vor der Ersten Großen Jugendkammer wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 15 Fällen, des schweren sexuellen Missbrauchs in fünf Fällen, des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in einem Fall und des schweren sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in vier Fällen verantworten. Die Verhandlung wird mit ziemlicher Sicherheit nicht innerhalb einer Woche abgeschlossen, wie es ursprünglich vorgesehen war. Martin Hauser, der Vorsitzende der Kammer, wird das Urteil wohl erst am Montagnachmittag verkünden – geplant war Freitag, 27. Juni. Am Vormittag werden sich die beiden Berufsrichter und die beiden Schöffen zur Beratung zurückziehen.
Die Plädoyers müssen auf alle Fälle noch in dieser Woche gehalten werden, weil der aus Hamburg angereiste Verteidiger Sascha Böttner in der kommenden Woche schon neue Termine hat.
Vernehmung des Opfers wird nach drei Stunden abgebrochen
In Verzug kam das Gericht am zweiten Tag bei der Vernehmung von Zeugen. Insbesondere die Vernehmung des nun bald 19-jährigen mutmaßlichen Opfers dieser Missbrauchstaten dauerte länger. Die Vernehmung wurde am zweiten Verhandlungstag noch mehr als dreieinhalbstündiger Dauer abgebrochen und wird am dritten Verhandlungstag mit der Befragung durch den psychologischen Gutachter fortgesetzt. Der hatte nach der Aussage der jungen Frau schon angekündigt, erheblichen Gesprächsbedarf zu haben.
Der Blick des Gerichts, der Staatsanwältin und des Verteidigers war am zweiten Verhandlungstag nicht nur auf das Haus in einer Gemeinde im Norden des Kreises Waldshut gerichtet, in welchem es bis bis September 2020 zu den Missbrauchsfällen gekommen sein soll.
Verhältnis zum Stiefvater besser als zur Mutter
Immer mehr in den Mittelpunkt rückte auch das Haus im Kreis Konstanz, in welchem das Opfer der Tat gemeinsam mit ihrer Mutter und deren jetzigen Ehemann bis Januar 2021 lebte. Nachdem sie ihre Mutter wegen Körperverletzung angezeigt hatte, wurde sie in einer Jugendhilfeeinrichtung am Bodensee untergebracht. Das Urteil gegen die Mutter ist inzwischen rechtskräftig.
„Das Verhältnis zu meiner Mutter war noch nie gut“, sagte die nun bald 19 Jahre alt werdende Frau vor Gericht, die nach dem Besuch einer Förderschule für Kinder und Jugendliche mit Lernschwäche inzwischen eine Handwerkslehre absolviert. Das Sorgerecht für die damals noch minderjährige Tochter ist der Mutter 2023 entzogen worden.
Sichtbare Distanz zum Angeklagten in Verhandlung
Besser war das Verhältnis offenbar zum Stiefvater, den die Heranwachsende in all den Jahren als eine Vaterfigur sah. Ihren leiblichen Vater auf der Anklagebank würdigte sie indes während der dreieinhalb Stunden mit keinem Blick. Wenn sie von ihm erzählte, nannte sie seinen Vornamen oder sprach „von dem Herrn da“ oder von „Herrn Nachname“.
Der als Zeuge geladene Stiefvater lieferte während seiner Vernehmung einen Beleg dafür, dass auch langes demonstratives Schweigen erhellend sein kann. Geschwiegen hat er auf die simple Frage von Richter Hauser, ob es im Keller des Hauses einen Raum mit einem Bett gebe.
Als sich Richter Hauser nicht mit dem Schweigen zufriedengab, räumte der Stiefvater die Existenz solch eines Raumes ein. Benutzt werde der Raum aber ausschließlich von ihm und seiner Frau. Dies eine Aussage, der die junge Stieftochter im Zeugenstand heftig widersprach. Dort seien immer wieder fremde Menschen eingekehrt; ihre Mutter habe sie auch aufgefordert, sich offenherzig zu kleiden, und einmal habe sie in der Dusche im elterlichen Badezimmer einen fremden nackten Mann gesehen.
Ehe bricht noch vor der Geburt auseinander
Die Vernehmung der Mutter des Angeklagten klärte auf, warum dieser 2006 die Ehe mit der Mutter des mutmaßlichen Opfers nach nur wenigen Monaten und noch vor der Geburt der gemeinsamen Tochter wieder beendete. Er habe Anhaltspunkte dafür gehabt, dass sich seine Ehefrau im horizontalen Gewerbe ein Zubrot verdient habe.
Opfer: Erster Vorfall mit 9 Jahren, der letzte mit 14
Das Opfer bekräftigte im Zeugenstand die Aussagen, die sie vor Jahren bereits gegenüber der Polizei gemacht hatte. Beim ersten Zwischenfall, bei dem ihr der Vater auf dem Sofa an die Brust gefasst habe, sei sie acht oder neun Jahre alt gewesen. Beim letzten Vorfall im September 2020 war sie 14.
Dabei sei sie mit einem Kabelbinder gefesselt und an einer Lampe auf einem Schreibtisch im Spielzimmer des Angeklagten festgebunden worden. Als es ihr auch nach mehrmaligem Nachfragen der Richter nicht gelang, auf einem Foto des Zimmers aufzuzeigen, wie genau der Kabelbinder an der Lampe festgemacht wurde und wo sie war, als er versucht habe, in sie einzudringen, brach sie in einen heftigen Weinkrampf aus.
Zu den Übergriffen in der Wohnung im Norden des Kreises sei es über mehrere Jahre hinweg gekommen, als sie in den Ferien zu Besuch kam. Zunächst hatte sie in der Wohnung ihrer Uroma im Erdgeschoss übernachtet, später dann bei ihrem Vater im Obergeschoss. Der zog 2014 mit seiner Lebensgefährtin zu seiner Großmutter.
Während der Übergriffe, so sagte die junge Frau im Zeugenstand, sei die Lebensgefährtin bei der Arbeit, schlafend im Bett oder beim Spaziergang mit dem Kater vor dem Haus gewesen.
Schulpsychologin weicht auf konkrete Frage aus
Die Schulpsychologin, der sich die damals 14-Jährige 2020 anvertraut hatte, antwortete nicht eindeutig auf die Frage des psychologischen Gutachters, ob sie damals dem Mädchen geglaubt habe. Sie habe die Aussagen ernst genommen und als eine Möglichkeit betrachtet.