Herr Rottler, Herr Hiltner, das neue Ausbildungsjahr hat gerade begonnen. In welche Fettnäpfchen sollten Azubis in den ersten Tagen auf gar keinen Fall treten?
Rottler: Auszubildende dürfen sich zunächst einmal jeden Fehler leisten. Deswegen sind sie ja Auszubildende und keine voll ausgebildeten Fachkräfte. Aber es gibt natürlich schon einige Regeln, die nach kurzer Zeit sitzen sollten. Freundlich grüßen, den Chef beim Kunden nicht mit Du ansprechen, ein gepflegtes Äußeres und natürlich Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind solche Dinge. Die Ausbildungsbetriebe sind bei solchen Themen zusehends in der Pflicht, weil einige Familien und auch die Schule solche Werte nicht immer vermitteln.
Gibt es auch Dinge, die der Handwerksbetrieb beim ersten Kontakt mit den Auszubildenden unbedingt beachten sollte. Immerhin herrscht Lehrlingsmangel...
Hiltner: Das Thema Personalgewinnung und –sicherung ist ein absolutes Zukunftsthema für das Handwerk. Die Ansprüche der Jugendlichen wandeln sich, und darauf müssen die Firmen reagieren. Sie müssen zum Beispiel stärker in den Fokus stellen, wie fortschrittlich viele Handwerksbetriebe schon sind, etwa was das Thema Digitalisierung angeht. Ein tolles Mittel, sich gegenseitig kennen zu lernen, ist auch ein Praktikum. Die meisten Betriebe bieten das an.

Das Lehrjahr läuft bereits seit einigen Tagen. Welche Chancen gibt es noch, eine Lehrstelle zu ergattern?
Rottler: Es gibt noch vielerlei Möglichkeiten. Das Lehrstellenjahr beginnt zwar offiziell am ersten September, ein späterer Einstieg ist aber in vielen Fällen noch ohne weiteres möglich. Wer später einsteigt, muss aber dann etwas mehr Gas geben, um den Stoff aufzuholen. Aber bei einer Lehrdauer von drei Jahren, dürfte es kein Problem sein, ein paar Tage oder auch Wochen aufzuholen.
Wie viele freie Lehrstellen gibt es in der Region?
Rottler: Auf unserer zentralen Lehrstellenbörse sind aktuell noch 350 Lehrstellen frei. Allerdings tragen sich dort nicht alle Unternehmen ein. Es könnte also noch deutlich mehr freie Ausbildungsplätze geben.
In welchen Branchen sind die Chancen am größten?
Rottler: Viele freie Stellen gibt es für Anlagenmechaniker. Dieser Beruf boomt seit Jahren und sucht händeringend Nachwuchs. Man muss da allerdings auch etwas technisches Verständnis mitbringen und eine nicht immer ganz einfache Ausbildung durchlaufen. Aber auch für KfZ-Mechatroniker gibt es noch vielerlei Chancen. Generell gibt es aber für fast jedes Interessengebiet noch etwas im Angebot.
Wie hat die Corona-Pandemie die Lehrstellensuche betroffen?
Hiltner: Die Auswirkungen waren massiv, etwa weil Fach- und Ausbildungsmessen abgesagt werden mussten und Auszubildendenwerbung auch andernorts oft nicht stattfinden konnte. Die Kammern haben zwar viel davon ins Internet verlagert, aber unter dem Strich war es viel schwerer, Nachwuchs und Betriebe zusammenzubringen.
Wie geht es den Betrieben in der Corona-Krise?
Rottler: Es gibt im Handwerk eine große Spreizung. Während das Bauhauptgewerbe und verwandte Branchen sehr gut durch die Krise gekommen sind, hatten die von Lock-Down betroffenen Betriebe mit massiven Umsatzausfällen zu kämpfen. Das betrifft etwa Friseure, Kosmetiker, das Nahrungsmittelhandwerk, das durch die schwierige Situation in der Gastronomie und bei den Veranstaltungsdienstleitern leidet. Was das gesamte Jahr angeht bin ich vorsichtig optimistisch, sofern keine zweite Corona-Welle kommt.
Hiltner: Es ist nicht ausgeschlossen dass wir im Frühjahr kommenden Jahres Insolvenzen in einer Vielzahl von Branchen sehen. Wie es den Unternehmen im Moment geht ist schwer abzuschätzen, da die Insolvenzanmeldepflicht ja bis Ende März 2021 ausgesetzt ist. Positiv stimmt mich, dass immer mehr Betriebe in Industrie und Handwerk Soforthilfen des Staates zurückzahlen. In Baden-Württemberg sind es mittlerweile 40 Millionen Euro, die zurückgezahlt wurden. Und es werden jede Woche mehr. Das zeigt, dass sich die Konjunktur doch schneller erholt, als man dachte.
Die Digitalisierung stellt insbesondere die Handwerkerausbildung vor Herausforderungen. Wie ist der Stand?
Hiltner: Die Lehrpläne und Ausbildungsinhalte in den Berufsschulen und den Bildungsakademien des Handwerks sowie die Prüfungsordnungen für die einzelne Fachrichtungen sind gefordert, um mit den technischen Entwicklungen in den Betrieben Schritt zu halten. Das ist ein Riesenthema. Die entscheidende Frage wird sein, wie wir in Zukunft das hohe Niveau der dualen Ausbildung im Bereich der Digitalisierung garantieren können.
Die Digitalisierung vieler Geräte wie Autos, Heizungen oder Maschinen verändert ja auch das Verhältnis zwischen den Herstellern dieser Produkte und dem dienstleistenden Handwerk. Welche Rolle bleibt den Handwerkern vor Ort noch?
Hiltner: Die Hersteller sammeln durch vernetzte und internetfähige Geräte zusehends Kundendaten, die früher ausschließlich der Handwerker vor Ort hatte. Das Interesse der Gerätebauer ist es nun, die Datenhoheit an sich zu ziehen und damit einen direkten Zugang zum Endkunden zu erhalten. Die Macht der Hersteller in diesem Punkt ist schon groß und sie wird immer größer. Wir sind der Meinung, dass diese Entwicklung nicht gut ist. Der Handwerker vor Ort kennt die Kunden und ihre spezifische Problemstellung am besten. Wir lassen uns da nicht herausdrängen.
Sind die Konzerne und Geräte-Hersteller kooperativ?
Rottler: Die Gerätebauer können ohne das Handwerk vor Ort keine Geschäfte machen. Es gibt eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Handwerk und Hersteller.
Hiltner: Aber das Kräftegleichgewicht verschiebt sich schon. Die Hersteller, etwa von Smart-Home-Lösungen, versuchen gerade massiv in die Wertschöpfungskette von Handwerksdienstleistungen einzugreifen. Es gibt einen regelrechten Kampf um die Kundendaten auch im Handwerk. Und ich erkenne wenig Bereitschaft bei den Herstellern hier Abstriche zu Gunsten des Handwerks vor Ort zu machen. Sie sind relativ aggressiv unterwegs.
Wie schafft man es, mehr Frauen fürs Handwerk zu begeistern?
Rottler: Ich denke, die Offenheit bei den Betrieben mehr Frauen anzustellen ist da. Manchmal fehlt es aber noch bei ganz konkreten Dingen, etwa Sanitäranlagen nur für Frauen. Da brauchen wir einfach noch mehr Gleichberechtigung. In nicht tarifgebundenen Bereichen ist es auch ein Problem, dass Frauen manchmal nicht dasselbe Gehalt bekommen wie ihre männlichen Kollegen. Das kommt durchaus noch vor, aber das sollte schleunigst geändert werden. Das steht unserer Branche nicht gut an. Es gibt da sicherlich Luft nach oben bei den Löhnen.
Wie kann das Handwerk allgemein attraktiver werden?
Hiltner: Wir müssen an unserem Image arbeiten. Die Unternehmen arbeiten beispielsweise viel stärker mit Digitalisierungs-Technologien als man gemeinhin glaubt. Gewerke wie die Elektrotechnik, Sanitär, Heizung und Klima bis hin zu Schreinern und Malern nutzen schon recht ausgefeilte IT-technologien, um ihren Job zu verrichten. Denken Sie nur an Stichworte wie das vernetzte Haus – Smart Home. Das können die Betriebe alles.
Rottler: Das Handwerk bietet auch ein großes Maß an Sicherheit für die persönliche Entwicklung von Menschen. Im Handwerk sind sie nicht wie in vielen Akademikerberufen gezwungen oft den Arbeitsort- oder Betrieb zu wechseln. Diese Stabilität und eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind Werte, die für die heutige Jugend immer wichtiger werden.