Freie Verkaufsflächen, wohin man schaut. Die sonst übliche Jahresmenge an verkauften Fahrrädern, sie war dieses Jahr schon im Juni weg. „Eine so extreme Saison wie diese habe ich in all meinen Berufsjahren noch nie erlebt. Und das sind inzwischen immerhin 46 Jahre“, erzählte ein Außendienstmitarbeiter des japanischen Fahrradkomponenten-Herstellers Shimano neulich Thomas Bernds. Bernds ist ein kleiner Fahrradhersteller im Überlinger Osthafen.
Verhinderte Kreuzfahrer steigen aufs Rad um
Auch dort machte sich die gestiegene Nachfrage nach Fahrrädern in den vergangenen Monaten bemerkbar. „Ehepaare, bei denen die Kreuzfahrt dieses Jahr weggefallen ist, haben sich für das Geld neue Fahrräder gegönnt“, nennt Thomas Bernds ein Beispiel. Da bei Bernds alle Räder auf Kundenwunsch maßgefertigt werden, gibt es zwar ohnehin nie einen Lagerbestand, die Kunden müssen immer mehrere Wochen auf ihre Bestellung warten.

Derzeit kann es aber auch mal ein bisschen länger dauern. „Es sind gerade nicht immer alle Komponenten so verfügbar, wie wir das gern hätten“, sagt Bernds.
Vorbestellungen stapeln sich
Aus rund 300 einzelnen Teilen besteht ein Fahrrad im Schnitt. Eine Komponente sind beispielsweise Getriebeschaltungen, wie sie der Hersteller Pinion in Denkendorf in der Region Stuttgart fertigt. Über Kurzarbeit wurde dort keine Sekunde nachgedacht. „Unsere Mitarbeiter haben gut zwanzig Prozent mehr zu tun, also normalerweise und bei uns stapeln sich die Vorbestellungen bis Ende des Jahres“, sagt Jessica Schmalbach, die im Vertriebsinnendienst bei Pinion arbeitet.

Für die Pinion-Kunden, wie den Fahrradhersteller Velotraum aus Weil der Stadt in der Region Stuttgart, bedeutet das lange Lieferzeiten. „Wer bei uns derzeit ein Fahrrad bestellt, muss manchmal bis zu drei Monaten darauf warten, einfach weil einzelne Teile für die Montage fehlen“, sagt Stefan Stiener, Geschäftsführer von Velotraum. Eine solch rasant gestiegene Nachfrage nach Fahrrädern wie das seit der Wiederöffnung der Fahrradläden nach dem Lockdown Mitte April der Fall war, hat Stefan Stiener noch nie erlebt.
Auch er hört immer wieder von Kunden, dass sie das für den Urlaub gesparte Geld nun in ein neues Fahrrad investieren wollen. „Wir machen derzeit wirklich Rekordumsätze und hatten beispielsweise den besten Mai seit unser Betrieb im Jahr 1968 eröffnet hat.“
Michael Wild, Marketingchef bei Paul Lange & Co., der deutschen Generalvertretung für Shimano Komponenten sowie Teile anderer Marken in Stuttgart, ist es fast schon peinlich, dass seine Branche laut einer Umfrage des Forschungsinstituts Ifo zu den größten Gewinnern der Corona-Krise gehört. „Was wir derzeit erleben, ist wirklich Wahnsinn. Vor allem im Bereich der Verschleißteile sind wir bei manchen Dingen einfach komplett ausverkauft“, sagt er.
Denn die Deutschen investieren statt in den Jahresurlaub derzeit nicht nur in neue Fahrräder, bevorzugt E-Bikes. Sie bringen auch ihre alten Räder, die seit Jahren im Keller oder in der Garage parken, wieder auf Vordermann. „Sei es, weil jetzt ein Radurlaub gemacht wird oder weil man plötzlich doch lieber mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt als in den vollen Bahnen“, sagt Wild.
Diese positive Entwicklung hin zu mehr Fahrradfahrern gebe es zwar schon seit einigen Jahren. „Durch die Corona-Krise hat sich das aber nun massiv beschleunigt“, so Michael Wild. Der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zufolge fahren die Deutschen seit Beginn der Krise doppelt zu viel Fahrrad wie davor. Und sie achten dabei sogar auf die Sicherheit. „Wir verkaufen deutlich mehr Helme als früher. Anders als bei Ski-Helmen hat der Radhelm-Markt seit Jahren fast stagniert“, sagt Wild.
Umsatzplus mit Fahrradzubehör auch bei Vaude
Auch beim Outdoor-Hersteller Vaude in Tettnang wird deutlich, dass seit einigen Monaten deutlich mehr Menschen mit dem Rad zur Arbeit pendeln als vor der Corona-Krise. Und zwar an einem besonders gefragten Artikel: Fahrrad-Taschen für die Arbeits-Utensilien. „Die wasserdichten Modelle sind kaum mehr lieferbar, wir produzieren seit Wochen an der Kapazitätsgrenze und können den Bedarf trotz neu eingestellter Mitarbeiter derzeit nicht decken“, sagt Gernot Moser, Vertriebsleiter im Bereich Fahrradsport bei Vaude.
Neben mehr Kunden, die Zubehör kaufen, um zur Arbeit radeln zu können, macht sich auch eine Zunahme bei den Fahrradurlaubern bemerkbar. „Auch die brauchen Radtaschen, aber eben auch Fahrradbekleidung.“ Diese Entwicklungen führen zu einem zweistelligen Plus in der Radsportbranche von Vaude.
Auch mehr Pendler radeln
Gernot Moser glaubt, dass die Nachfrage nach mehr Fahrrädern und Zubehör auch in den nächsten Jahren bleiben wird. „Es wurden jetzt endlich Fahrradstraßen eröffnet und Infrastrukturprojekte im Radbereich angestoßen, auf die seit Jahren gewartet wurde. Dadurch und durch die E-Bikes wird Radfahren auch dauerhaft komfortabler und damit attraktiver.“
Dass insbesondere Pendler gerade nicht nur kurzfristig aufs Fahrrad umsteigen, merkt auch Jobrad, der Freiburger Pionier für Dienstradleasing. „Es gab ab Mitte April vermehrt Tage, an denen wir über 1000 bestellte Räder bei uns abgerechnet haben“, sagt Markus Fix, der im Bereich Kommunikation bei Jobrad arbeitet. Fahrräder würden seiner Meinung nach in der derzeitigen Situation zurecht vermehrt als optimales Verkehrsmittel entdeckt, mit dem man vergleichsweise infektionssicher unterwegs sei. „Für Unternehmen wiederum ist die Bereitstellung von Diensträdern für ihre Beschäftigten eine gute Möglichkeit, ihre Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern“, sagt Markus Fix.
Dauerhafter Fahrradboom
Auch Mobilitätsexperten wie Thomas Stein vom Deutschen Institut für Urbanistik sieht eine echte Chance, dass der Fahrradboom nicht nur eine kurze Modeerscheinung in Deutschland ist, sondern nachhaltig bleibt. Denn um Routinen zu durchbrechen, wie beispielsweise die Wahl des Verkehrsmittels auf dem Weg zur Arbeit, brauche es einschneidende Veränderungen. Dazu zählen beispielsweise Umzüge, Nachwuchs oder eben auch Pandemien.