Wenn sich Jutta Driesch in den vergangenen Jahren morgens im Büro über die Arbeitsmarktzahlen beugte, konnte sie sich danach meist erst einmal entspannt zurücklehnen. Im Verantwortungsbereich der Chefin der Arbeitsagentur Konstanz-Ravensburg brummte die Wirtschaft. Die Arbeitslosenquote bewegte sich ziemlich konstant auf Vollbeschäftigungsniveau. Mal etwas darüber, dann wieder unter der magischen Grenze von drei Prozent Arbeitslosigkeit. Im exportstarken Baden-Württemberg lief das fast überall so. „Wir haben Jahre absoluter Stabilität hinter uns“, sagt Arbeitsmarkt-Managerin Driesch.

Jutta Driesch, Vorstandschefin der Arbeitsagentur Ravensburg-Bodensee
Jutta Driesch, Vorstandschefin der Arbeitsagentur Ravensburg-Bodensee | Bild: Arbeitsagentur

Damit ist es jetzt vorbei. Wenn sich die 59-Jährige heute die Statistiken anschaut, wird ihr mulmig. Der gebürtigen Rheinländerin kommen dann Superlative über die Lippen. „Unglaubliche Situation“, sagt sie etwa. Oder „extrem außergewöhnliche Lage“.

Tatsächlich befindet sich der deutsche Arbeitsmarkt in einer Phase, die sogar ausgewiesene Zahlenmenschen in Wallung versetzt. Seitdem die Corona-Krise die Republik lahmlegt verdüstern sich die Aussichten. In Baden-Württemberg nähert sich die Arbeitslosigkeit zügig der Schwelle von 300.000 Arbeitnehmern. Im Verlauf des vergangenen Jahres hat sich die Zahl der Südwest-Beschäftigten, die den Gang zu den Arbeitsagenturen antreten musste, um gut 40 Prozent erhöht.

Kurzarbeit steigt rasant

Dafür, dass die Fachleute die Lage noch nicht als dramatisch einstufen, sorgen zwei Dinge: die extrem gute Beschäftigungssituation bis Jahresende, die deutlich niedrigere Arbeitslosenquoten aufwies als etwa vor der Finanzkrise 2008/09 sowie die Kurzarbeit. Diese verhindert im Moment noch Entlassungen in größerem Umfang, weil sie den Arbeitgebern die Möglichkeit gibt, die Arbeitskosten in die Sozialsysteme auszulagern, die Beschäftigten aber an Bord zu halten. Der Vorteil: Sobald die Konjunktur wieder anzieht, können die Firmen sofort wieder durchstarten. Die zeitraubende Wiedereingliederung ins Erwerbsleben entfällt – ein Mechanismus der Deutschland in der letzten Krise einen deutlichen Wettbewerbsvorteil vor anderen Ländern in Europa sicherte.

Das könnte Sie auch interessieren

Wie massiv das Instrument gerade genutzt wird, verdeutlicht ein Blick in die Statistik. Während im Bodenseekreis im Mai 2019 gerade einmal drei Betriebe für 25 Angestellte Kurzarbeit angemeldet hatten, waren es im Mai 2020 ganze 2450 Betriebe für rund 43.000 Beschäftigte – ein Zuwachs um das mehr als 1700-Fache.

Industrieregion um Villingen besonders betroffen

Tatsächlich ist die Bodenseeregion sowie Teile des Schwarzwalds und der Schwäbischen Alb besonders von den Auswirkungen der Krise betroffen. Im Schwarzwald-Baar-Kreis etwa ist die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres um fast 64 Prozent angestiegen – ein Rekordwert in Baden-Württemberg. Im Landreis Konstanz und im Bodenseekreis stiegen die Zahlen um mehr als die Hälfte an.

Der Einzelhandel ist eine Stütze der Wirtschaft in der Grenzregion.
Der Einzelhandel ist eine Stütze der Wirtschaft in der Grenzregion. | Bild: AFP

Hier überlagern sich auf dem Arbeitsmarkt zwei Faktoren, die so in fast keinem anderen Landesteil Baden-Württembergs vorherrschen: sehr hohe Beschäftigungsanteile im verarbeitenden Gewerbe bei gleichzeitig extremer Abhängigkeit von Tourismus und Einzelhandel. Im Bodenseekreis etwa arbeitet knapp die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesen Branchen. Ein landesweit sehr hoher Wert.

Schweizer als Zünglein an der Waage

Was der Region in Normalzeiten zur Stärke gereicht, wird in Zeiten des Corona-Lockdowns zur Achillesferse. Denn es sind just die stark exportorientierten Gewerbejobs – etwa in Maschinen- und Fahrzeugbau oder der Chemieindustrie – sowie der Tourismus und Handel, die unter dem Lockdown am meisten leiden. Von einer „toxischen Lage“ auf dem Arbeitsmarkt spricht denn auch Arbeitsmarkt-Expertin Driesch beim Blick in die Region. Dazu kommt der Effekt, dass sich immer mehr in der Schweiz arbeitende Grenzpendler an ihrem deutschen Wohnort als arbeitslos melden. Denn auch jenseits der Grenze steigen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit an.

Kommt die Insolvenzwelle?

Schweizer Einkäufer entschieden in den kommenden Monaten über die Lage mit, sagt Driesch. Kämen sie künftig wieder verstärkt, würde sich die Situation in Gastronomie und Einzelhandel entspannen. Wenn nicht, seien die Aussichten schlechter. „Das wird sich in den kommenden zwei Monaten entscheiden“, sagt sie. Es sei nicht auszuschließen, dass man zum Ende der Sommerferien deutlich ansteigende Tendenzen bei Arbeitslosigkeit und Insolvenzen sehe, sagt sie. Die großen Einschläge auf dem Arbeitsmarkt könnten also noch kommen.

Zwischen Hoffnung und Bangen: Wie die Chefs der Wirtschafts-Kammern in der Region die Lage einschätzen:

  • Claudius Marx, IHK-Hauptgeschäftsführer des IHK-Bezirks Hochrhein-Bodensee:
IHK-Chef an Hochrhein und Bodensee: Claudius Marx
IHK-Chef an Hochrhein und Bodensee: Claudius Marx | Bild: Martin Schutt

„Die Corona-Krise hat bis auf wenige Ausnahmen alle Wirtschaftszweige im IHK-Bezirk Hochrhein-Bodensee erfasst“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx. Industrie, Handel, Gastronomie und Hotellerie, sowie sonstige Dienstleistungen. Während die Industrie an unterbrochenen Lieferketten, der Krise der Automobilwirtschaft und der Entwicklung der Zielmärkte leide, seien alle anderen da empfindlich betroffen, wo das Geschäftsmodell auf dem unmittelbaren Kontakt zum Kunden beruht – vom Tattooshop über den Busunternehmer bis zu Fitnessstudio und Zahnarztpraxis. „Die Umsatzeinbrüche sind überall bedrohlich“, sagt Marx.

  • Peter Jany, IHK-Chef Weingarten:
Peter Jany, Hauptgeschäftsführer der IHK Bodensee-Oberschwaben
Peter Jany, Hauptgeschäftsführer der IHK Bodensee-Oberschwaben | Bild: Lorenz Bee

Vier von zehn Betriebe planen Personal in den nächsten zwölf Monaten abzubauen. „Immerhin gehen 55 Prozent der Unternehmen aber noch davon aus, dass sich am Personalbestand nichts ändern wird“, sagt Peter Jany, IHK-Chef in Weingarten. Um die Krise abzufedern, böten die staatlichen Hilfen kurzfristig eine gute Grundlage. Als „sehr positiv und zukunftsgerichtet“ wertet er den Plan, Investitionen durch bessere Abschreibemöglichkeiten und mehr Forschungsförderung zu stimulieren. Auch der digitale Infrastrukturausbau sei wettbewerbsentscheidend. Ziel sei es „auf- und nachrüsten – so schnell und unbürokratisch wie irgend möglich“. (wro)

  • Thomas Albiez, IHK-Chef Villingen-Schwenningen:
Thomas Albiez, IHK-Chef in Villingen
Thomas Albiez, IHK-Chef in Villingen | Bild: Ihk

Die Einschläge kommen: „Im April und Mai wurde in rund 4500 Betrieben für rund 67.000 Mitarbeiter Kurzarbeit angezeigt“, sagt Thomas Albiez, IHK-Chef in Villingen. Die Zahl der Arbeitslosen wachse ebenfalls, allerdings noch in überschaubarem Ausmaß. „Es wird deutlich, dass unsere Betriebe alles unternehmen, um die Beschäftigten zu halten. Das gilt ebenso für die Azubis.“ Da die Region in Europa mit die größte Industriedichte aufweise, sei die Lage in der Industrie von besonderer Bedeutung. Und die Industrie hat auf breiter Front mit Corona zu kämpfen. Die Umsatzrückgänge seien aber über alle Wirtschaftszweige hinweg massiv. (wro)

  • Georg Hiltner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz:
Georg Hiltner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz
Georg Hiltner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz | Bild: type="Seq" Holger Hagenlocher

„Mit dem Ende des Shutdowns hat sich im Handwerk die Umsatzlage etwas entspannt“, sagt Georg Hiltner Handwerkskammer-Chef, dessen Sprengel vom Bodensee bis nach Rottweil reicht. 63 Prozent der Betriebe meldeten aktuell Umsatzeinbußen von durchschnittlich 46 Prozent. Am schlimmsten sei die Lage bei Gesundheits- und den persönlichen Dienstleistungshandwerken, sagt Hiltner. In der Bau- und Ausbaubranche seien die Auftragsbücher noch gefüllt. „Große Entlassungswellen im Handwerk gibt es derzeit nicht“, sagt er. Sollte das Konjunkturpaket nicht zügig umgesetzt werden, sei eine Insolvenzwelle aber möglich. (wro)