Sie stellen die Instrumente her, mit denen Ärzte Leben retten können. Doch nun schlägt die Medizintechnikbranche in Baden-Württemberg Alarm. Die Versorgung von Patienten steht auf dem Spiel.
Schon jetzt sind spezielle medizinische Produkte nicht mehr oder nur noch schwer zu bekommen, warnt Meinrad Kempf, Sprecher des Netzwerks Medical Mountains in Tuttlingen. Darunter seien Beatmungsschläuche für Babys, verschiedene Beatmungsmasken oder Spezielle Katheter für Kinder.
Produkte für Kinderchirurgie verschwinden vom Markt
In Bedrängnis bringt die Branche die neue EU-Medizintechnikverordnung, die MDR (Medical Device Regulation). Diese ist im Mai 2021 in Kraft getreten und regelt die Zulassung von medizintechnischen Produkten. Doch vor allem für kleinere mittelständische Unternehmen ist die Verordnung eine riesige Hürde, so Kempf.
Sie kapitulieren vor der Bürokratie und den zusätzlichen Kosten und stellen die Produktion bestimmter Produkte ein, die nur in kleinen Mengen produziert werden und kleine Margen bringen, erklärt Kempf. Besonders betroffen sei die Kinderchirurgie.

„Einfache Medizinprodukte wie Skalpelle sind nicht knapp geworden“, erklärt Kempf. Da es zahlreiche Hersteller dafür gebe, würden Engpässe ausgeglichen. Außerdem seien die Lager noch gut gefüllt.
Er fürchtet, dass sich die Situation für eine der wichtigsten Branchen in Baden-Württemberg noch verschlimmern könnte und weitere längst erprobte Produkte vom Markt genommen werden, wenn sich eine Zertifizierung für die Unternehmen nicht mehr rechnet.
Kempf spricht für etwa 350 Unternehmen, die hauptsächlich in Baden-Württemberg sitzen. Tuttlingen ist der Standort von den Branchenschwergewichten Storz und B. Braun.
Keine Zeit für Innovationen
Auch Innovationen, mit denen die Unternehmen weltweit erfolgreich sind, könnten auf der Strecke bleiben, der Südwesten seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren und von Konkurrenten aus Asien oder den USA überholt werden. Kempf weiß von Fällen, in denen die Markteinführung überdacht wurde.
„Die Ideenschmieden werden ausgebremst“, sagt Kempf. Die meisten Unternehmen sind laut Branchenverband Spectaris Mittelständler mit weniger als 50 Mitarbeitern. Um den administrativen Aufwand zu bewältigen, würden sie Arbeitskräfte aus der Entwicklung abziehen. Die Kapazitäten für Innovationen fehlten dann. Denn nicht nur neu entwickelte Produkte, sondern auch bereits lang erprobte müssen durch die Prüfstellen, etwa von TÜV und Dekra.
Unterstützung vom Winfried Kretschmann
Medical Mountains setzt sich bei der Politik dafür ein, dass zumindest diese Bestandsprodukte vorerst keine neue Zertifizierung benötigen. Das würde den Druck von allen Beteiligten nehmen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann betonte Ende Januar bei einem Gespräch mit dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maros Sefcovic, dass die EU-Verordnung eine große Herausforderung für die Unternehmen sei.
„Inzwischen konnten wir bei der Medizinprodukteverordnung die EU-Kommission auf diese Problematik aufmerksam machen und konkrete Handlungsempfehlungen ausarbeiten. Wir sind zuversichtlich, dass wir gemeinsam noch weitere Verbesserungen umsetzen können“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach diesem Termin.
Zu wenig Prüfstellen für zu viele Produkte
27 Prüfstellen führt die Europäische Kommission derzeit auf ihrer Internetseite auf, die die Produkte nach den neuen MDR-Vorgaben abnehmen können. 52 seien es vor der Umstellung gewesen, sagt Kempf. So lässt sich gut ausrechnen, dass diese Stellen den Mehraufwand nur mit Verzögerungen schultern können.
Die Branche schätzt, dass 20.000 Zertifikate bis Mai 2024 in die MDR überführt werden müssen. „Im Sommer 2021 waren unseren Informationen nach erst rund 200 MDR-Zertifikate ausgestellt, also 1 Prozent“, so Kempf. Die Prüfstellen würden versuchen, mit Personalaufbau den Berg zu bewältigen.

Doch Kempf zweifelt am Erfolg. Und die Wartezeiten scheinen ihm Recht zu geben. Von der Einreichung der Unterlagen bis zur Zulassung könne schnell ein Jahr vergehen, wenn es noch Rückfragen gebe. Und auch wenn alles glatt läuft, seien es Monate. Teilweise würden die Prüfstellen schon keine neuen Kunden mehr aufnehmen.
Erschwerend für die betroffenen Unternehmen ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Ob Prüfstelle oder Medizintechnikunternehmen, die benötigten Qualitätsmanager sind schwer zu finden.
Der Branchenriese B. Braun, der auch in Tuttlingen sitzt, gibt an, bereits früh mit den Vorbereitungen für die neue Zertifizierung begonnen zu haben. Insofern sei das Unternehmen zuversichtlich, „die Anforderungen der MDR erfüllen zu können.“ Kempf erläutert, dass es für die größeren Unternehmen mit mehr Geld und Personal erheblich einfacher sei, die Verordnung umzusetzen.
Neuer Engpass bahnt sich 2024 an
2024 rollt eine weitere Welle an Anträgen auf die Zertifizierungsstellen zu. Denn viele Hersteller haben die Möglichkeit genutzt und ihre alten Zertifikate verlängert, um die Produkte weiter verkaufen zu können. Dann in zwei Jahren, befürchtet Kempf, werden die Unternehmen erneut ihr Portfolio bereinigen.
Viele Bestandsprodukte würden durch die hohe Auslastung der Prüfstellen gar nicht rechtzeitig abgenommen werden können. „Das bedeutet den Verlust der Marktfähigkeit und folglich auch den Ersatz durch außereuropäische Produkte“, so Kempf.