Der Rückzug des stationären Handels in deutschen Innenstädten ist dramatisch. Dieser Ansicht ist der Präsident des Deutschen Handelsverbands, Alexander von Preen. Nach seinen Angaben haben in den vergangenen drei Jahren 41.000 Händler das Handtuch geschmissen. Zum Vergleich: In den vorangegangenen zehn Jahren sind lediglich 39.000 Geschäftsaufgaben gezählt worden.
Eine Kehrtwende der alarmierenden Entwicklung sei nicht in Sicht, warnte von Preen beim jüngsten „Konzilgespräch“, zu dem der Handelsverband Südbaden nach Konstanz eingeladen hatte. Rund 100 Unternehmer diskutierten dabei das gewandelte Verbraucherverhalten und welche Anforderungen sich künftig an Händler und Innenstädte stellten.
Das Marktumfeld für den stationären Handel sei aktuell sehr schwierig, sagte von Preen. Viele Händler haben sich von den Corona-Einschränkungen noch nicht erholt, seien vom wirtschaftlichen Abschwung in Folge des Ukraine-Kriegs betroffen, müssten sich einem geänderten Kaufverhalten stellen, mit dem zunehmenden Online-Handel umgehen und geplante städtebauliche Veränderungen hinnehmen. Selbst wenn Geschäfte diese Herausforderungen meisterten und florierten, sei ihr Bestand häufig nicht gesichert, weil es nicht selten an interessierten Nachfolgern in der Geschäftsführung mangele.

Die Zunahme leerstehender Ladenlokale in den Einkaufslagen erfordere aber neue Überlegungen, wie Innenstädte künftig genutzt und gestaltet werden könnten, befand Stefan Leuninger, Leiter des Stuttgarter Beratungsbüros Cima GmbH, das Konzepte für die Entwicklung von Innenstädten erarbeitet. Er sprach sich für einen multifunktionalen Ansatz aus, denn Innenstädte seien heute nicht nur zum Shoppen da.
Sie sollten stärker für Begegnungen und zum Wohnen genutzt werden. Angebote der Gastronomie und Hotels seien wichtig, verstärkt werden könnte aber etwa die Präsenz von Gesundheitsdienstleistungen – dafür böten sich die Flächen. Wichtig seien Funktionen, die für Frequenz sorgten, bekräftigte Leuninger.
Innenstädte sind den Menschen wichtig
Viele Bürger empfänden das Stadtzentrum als „gute Stube“, die dementsprechend nicht vernachlässigt werde dürfte, meint Leuninger. Eine höhere Aufenthaltsqualität in den Innenstädten sei wichtig. Dazu zählten Sauberkeit, Sitzgelegenheiten, Orte zum Verweilen, Barrierefreiheit, öffentliche Toiletten. Zudem seien klimawirksame Gestaltungen notwendig, wie schattenspendende Bäume, mehr Grün- und Wasserflächen.
Der Städteberater sprach sich für die vermehrte Ausweisung von verkehrsberuhigten Zonen aus, um Park- und Suchverkehr zu vermeiden und Fußgängern mehr Sicherheit zu bieten. Allerdings sei Verkehr differenziert zu sehen, es benötige durchaus zentrumsnahe Stellplatzangebote, räumte Leuninger ein. Er ermutigte Stadtpolitiker und -planer, in den Innenstädten „einfach einmal Veränderungen vorzunehmen und auszuprobieren“. Es brauche nicht immer ein umfassendes Gestaltungskonzept.

Handelsverband-Präsident von Preen bekräftigte, dass es nicht die allgemeingültige Blaupause für den Wandel der Innenstädte gebe. Die Erfordernisse seien stets individuell. Die in den Kommunen dazu notwendigen Diskussionen sollten aber möglichst frei von parteipolitischen Ideologien geführt werden, forderte er. Vor allem müssten Innenstädte erreichbar bleiben. Es sei der falsche Weg, Autos auszusperren – zumal immer mehr Autos elektrisch angetrieben seien.
Dem Schwinden der Händler müsse Einhalt geboten werden. In den großen Städten stünden teils bis zu 20 Prozent der Ladenlokale leer. Die Erfahrung zeige, „dass Verkaufsflächen nach zwei Jahren Leerstand unglaublich schwer wieder zu belegen sind.“ Es benötige jetzt Geld und Engagement. Auch Vermieter seien hier gefordert.
Jürgen Baur vom Handelsverband Südbaden forderte vor allem Planungssicherheit: Ein Händler, der einen Laden für zehn Jahre und länger verbindlich miete und so finanzielle Verbindlichkeiten eingehe, benötige verlässliche Standortbedingungen. Die Politik müsse handeln, dürfe dabei aber keinen Zickzack-Kurs fahren, so Baur.

Der Oberbürgermeister von Konstanz, Uli Burchardt, hatte zu Beginn der Diskussionsrunde gewarnt, dass wenn die Funktion einer Innenstadt sterbe, auch die Stadt kaputt gehe. Die Qualität des öffentlichen Raums müsse gestärkt werden, auch in Konstanz, konstatierte Burchardt. Die Stadt verfüge aber im Handel über einen guten Besatz und einen Zustrom von Kaufkraft.
Nicht nur Einkauf, sondern Erlebnis
Den Gedanken von Burchardt, dass es nicht nur einer Aufenthaltsqualität, sondern auch eines Erlebniswertes bedürfe, griff auch Stefan Schweiger auf, der an der Hochschule Konstanz Betriebswirtschaftslehre unterrichtet und Forschungsprojekte leitet, die sich mit Innovationen im Einzelhandel beschäftigen. Er verwies darauf, dass auch junge Menschen die Innenstadt als Treffpunkt und Erlebnisraum nutzen wollten. Insbesondere wer zum klassischen Samstagseinkauf seine Zeit investiere, der wolle auch Entertainment erfahren, so Schweiger.

Hinsichtlich des zunehmenden Online-Handels und der damit erstarkenden Konkurrenz gab er dem stationären Handel die klare Empfehlung: Die Kundenerfahrung startet heutzutage im Internet; Händler, die dort nicht zu finden seien, würden auch im stationären Handel nur schwer wahrgenommen. Kunden recherchierten im Internet, um dann gut informiert zum Einkauf zu starten.
Digitale Sichtbarkeit sei wichtig, aber auch die Innenstadt als Erlebnisraum – sie müsse der „place to be“ sein, so Schweiger. „Das ist wie im Urlaub, man geht gerne wieder dorthin, wo es einem gefallen hat.“