Frau Krämer, keiner will ein Angsthase sein. Warum eigentlich?
Angst wird oft mit Schwäche gleichgesetzt. Viele haben diese Assoziation, weil man Dinge nicht schafft, weil man nicht mutig genug ist. Doch Angst ist nichts Schlechtes. Das versuchen wir auch unseren Patienten am Anfang der Therapie zu vermitteln.
Wie lässt sich die Angst von der krankhaften Phobie abgrenzen?
Angst ist etwas Gutes, denn sie schützt uns vor Gefahren, macht uns vorsichtig oder auch besonders wachsam. Aber wenn Ängste dann plötzlich überhand nehmen, sehr häufig auftreten, lange andauern und anfangen, uns einzuschränken und auch Leiden verursachen, dann spricht man von einer klinisch relevanten Angst. Eltern wissen oft nicht, dass das eine Diagnose ist, was ihr Kind hat und dass man das behandeln kann.

Welche Rolle spielt die Dauer der Angst?
Die Dauer und das Ausmaß der Ängste sind entscheidend. Auch, dass sie in verschiedenen Situationen auftritt oder eben in einzelnen so stark, dass ein heftiges Vermeidungsverhalten eintritt. Die Kinder sind dann sehr eingeschränkt in ihrer Lebensführung. Auch die Lebensqualität leidet darunter.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Bei Kindern kommen soziale Ängste sehr häufig vor. Sie ziehen sich dann stark zurück und haben Angst, auf andere Kinder zuzugehen, vor allem, wenn sie sie nicht kennen. Sie schlagen Einladungen zu Geburtstagen oder zum Spielen aus. Deshalb haben sie Schwierigkeiten, Freunde zu finden. In der Schule fällt es ihnen schwer, vor der Klasse zu sprechen, und sie melden sich kaum. Das wiederum beeinträchtigt ihre Schulleistungen. Schwierig wird es, wenn sie gar nicht mehr in die Schule wollen. Die Eltern versuchen, sie zu überzeugen, doch am Leben teilzunehmen. Deshalb kommt es auch zu Hause immer wieder zu Konflikten. Und so kann man sich vorstellen, wie diese Angst den Alltag durchzieht.

Sind davon Kinder betroffen, die eher vorsichtig-zurückhaltend sind, oder können solche Ängste auch Kinder treffen, die selbstbewusst im Leben stehen?
Das kann beides sein. Aber es ist schon so, dass es Kinder gibt, die von klein an ein schüchternes Temperament mitbringen und eher vorsichtig sind. Aber manchmal gibt es Situationen als Auslöser bei Kindern, die bisher keine Schwierigkeiten hatten. Sie haben Angst vor der Bewertung anderer und fragen sich dauernd: Was denken die jetzt von mir? Dann kann es zu einer Angst-Erkrankung kommen.
Inwiefern unterscheiden sich Ängste im Kindes- und Jugendalter?
Grundsätzlich können alle Angststörungen sowohl im Kindes- als auch im Jugendalter auftreten. Soziale Ängste gibt es bei Kleinen wie bei Älteren. Spezifische Phobien wie vor Monstern, vor verkleideten Menschen oder Spinnen kommen dagegen bei Kindern häufiger als bei Jugendlichen vor. Auch Trennungsängste gibt es eher bei Kindern.

Nehmen wir ein kleines Kind, das abends nicht einschlafen will, weil es Angst vor Monstern hat. Wie sollten Eltern am besten reagieren?
Solche Phasen sind bei Kindern ganz normal. Ich finde es wichtig, dass Eltern diese Angst ernst nehmen und nicht wegreden, denn sie ist da. Deshalb braucht das Kind die Bestätigung, dass dieses Gefühl in Ordnung ist. Man sollte aber keinesfalls panisch reagieren. Bei Monstern fällt es den Eltern wahrscheinlich leichter als bei Spinnen oder Hunden, vor denen sie sich oft selbst fürchten. Wichtig ist es, den Kindern zu zeigen, dass die Situation ungefährlich ist. Wir sprechen ja von Ängsten, denen keine reale Gefahr zugrunde liegt. Die Eltern sollten gemeinsam mit dem Kind überlegen, wie es die Situation meistern kann, wie man sich der Angst Schritt für Schritt nähern kann. Das Kind muss wissen, dass, wenn es der Angst immer aus dem Weg geht, sie mit der Zeit immer schlimmer wird.
Zu sagen, du brauchst keine Angst zu haben, hilft oft nicht. Wäre es besser, einen großen Bären ans Kopfende zu setzen und zu sagen: Schau mal, der passt auf dich auf und fängt die Monster?
Ja, bei kleinen Kindern ist das auf jeden Fall gut. Auch Bilderbücher eignen sich. Man kann zusammen mit dem Kind ein Monstermittel für die Sprühflasche entwickeln, dass die Ungeheuer vertreibt oder sich einen anderen Trick überlegen. Wenn Ängste aber bei Jugendlichen stärker werden, ist es wichtig, dass der Betroffene versteht: Ich brauche kein Hilfsmittel, sondern ich kann es alleine schaffen, die Angst zu bewältigen. Ziel ist es, die Angst auch aushalten zu können und nicht immer irgendetwas tun zu wollen, um sie kleiner zu machen, weil das hängenbleibt. Die jungen Leute beginnen dann, Sicherheitsverhaltensweisen zu entwickeln und können nicht mehr ohne bestimmte Medikamente oder ihr Handy aus dem Haus gehen, weil die Ängste dann immer größer werden.

Hatte ein Jugendlicher, der soziale Ängste entwickelt, als Kind bereits Ängste, die vielleicht nicht beachtet wurden, oder können sich solche Ängste im Jugendalter auch entwickeln, ohne dass in der Kindheit etwas vorgefallen ist?
Häufig beginnt es im Kindesalter. Es kann aber auch vorkommen, dass sich starke Ängste erst im Jugendalter entwickeln, dann hat das meist einen Auslöser, zum Beispiel eine Mobbingerfahrung.
Können Eltern die Ängste ihrer Kinder durch ihr eigenes Verhalten verstärken?
Ja. Eltern zeigen häufig Verhaltensweisen, die eher ungünstig sind, indem sie selbst bestimmte Situationen meiden oder das Kind überfordern und in Situationen hineinzwingen. Aber wenn ich dem Kind vorlebe, schwierigen Situationen eher aus dem Weg zu gehen, ist das nicht der richtige Weg. Man sollte den Kindern Sicherheit vermitteln und sie ermutigen: Du schaffst das, und wir kriegen das gemeinsam hin.
Welche Folgen kann es haben, wenn eine kindliche Angsterkrankung nicht behandelt wurde?
Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man als Erwachsener eine psychische Störung entwickelt. Das kann eine Angst-, aber auch beispielsweise eine depressive Störung sein oder eine Suchterkrankung. Ängste aus der Kindheit können sich verstärken oder Folgeprobleme nach sich ziehen. Wenn ein Kind Schwierigkeiten hat, sich im Umfeld Gleichaltriger zu bewegen, hat das Folgen für die soziale Entwicklung und den späteren Berufsweg.
Wie lange dauert eine Therapie in Ihrem Forschungsprojekt?
Die Therapien umfassen 16 Sitzungen. Im Vergleich zu anderen Therapien ist das eine sehr kurze Phase, die aber intensiv mit Doppelstunden oder zwei Terminen pro Woche läuft. Doch es hat sich gezeigt, dass, je intensiver man behandelt, und je öfter man Übungen mit kleinen Mutproben macht, desto schneller lässt die Angst nach und desto nachhaltiger ist der Effekt.

Wie gehen Sie bei der Therapie vor?
Nehmen wir ein Kind, das heftige Angst vor Spinnen hat, nicht in den Keller gehen oder einen Raum betreten kann, weil dort eine Spinne in der Ecke sitzt. Zu Beginn verifizieren wir die Diagnose, um dann Kindern und Eltern zu vermitteln, wie Ängste entstehen, und wie sie aufrechterhalten werden. Dann geht es darum, dass das Kind die Erfahrung macht, dass seine Angst ungefährlich ist und dass es in der Lage ist, sie zu bewältigen.
Fasst man auch eine Spinne an?
Man fängt mit Bildern und Filmen an, mit Plastikspinnen und arbeitet sich vor, vielleicht bis zum Besuch einer Zoohandlung, wo man eine Spinne anfassen kann. Man muss schauen, wie weit das Kind gehen möchte. Doch diese Konfrontationsübungen sind sehr erfolgreich. Bei Kindern mit sozialer Angst gehen wir auch mal mit in die Schule. Wir machen Übungen wie man andere Menschen anspricht, an einem Schalter Informationen erfragt oder alleine einkaufen geht. Schließlich schauen wir, wie die Kinder selbstständig weiterüben können. Das ist wichtig, damit der Erfolg bleibt.
Fragen: Birgit Hofmann
Die Forscherin und die Angststudie
- Martina Krämer, 37, psychologische Psychotherapeutin, ist am Institut für Psychologie an der Universität Freiburg für das Therapieprojekt zu Angsterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zuständig. Die promovierte Dozentin lehrt an Ausbildungsinstituten für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu den Themen Soziale Phobie und Gruppentherapie im Kindes- und Jugendalter.
- Therapiestudie: Etwa zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden an einer behandlungsbedürftigen Angsterkrankung. Das Therapieprojekt „KibA“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit einer Summe von 5,3 Millionen Euro über vier Jahre gefördert. 400 Kinder werden an sechs deutschen Therapiezentren behandelt. Man will besser verstehen, wie Ängste funktionieren, wie sie aufrechterhalten werden, um eine wirksame Therapie abzuleiten. Zusätzlich will man erforschen, welchen Einfluss die Therapie auf körperliche Angstreaktionen hat und wie die Körperreaktionen die Angst beeinflussen.
- Wer kann sich mitmachen? Kinder zwischen acht und 14 Jahren mit Trennungsängsten (Angst, sich von der Mutter zu trennen oder alleine zu Hause zu bleiben, soziale und spezifische Phobien), außerdem Jugendliche, die starke Ängste haben. Es muss noch keine Diagnose vorliegen. Kontakt: Universität Freiburg, Institut für Psychologie Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Tel. 0761/203-96766