Eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, eine Anpassung der Wohnkostenhilfe und eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft fordert die Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg (LAK-BW) zum Auftakt der Aktionswoche „Armut bedroht alle“ in Stuttgart. Im reichen Baden-Württemberg gelten von elf Millionen Einwhnern 1,6 Millionen Menschen als arm – und es werden immer mehr, die in Gefahr geraten, die Kosten für ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus eigener Kraft bestreiten zu können. Vor allem die Explosion der Mieten trägt dazu bei.

Als armutsgefährdet gelten in Baden-Württemberg insgesamt 15,2 Prozent der Bevölkerung, kaum weniger als der Bundesdurchschnitt, der bei 15,5 Prozent liegt. Als arm wird bewertet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Land zur Verfügung hat. Für einen Ein-Personen-Haushalt in Baden-Württemberg liegt die Schwelle bei 1127 Euro Haushaltseinkommen – nach Abzug der Wohnkosten, die mittlerweile oft mehr als die Hälfte des Einkommens verschlingen, bleibt oft kaum mehr als der Hartz-IV-Satz zum Leben.

„Die Hauptbetroffenen sind Erwerbslose, Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche und Senioren“, sagt Ulrike Hahn von der Diakonie Baden, Sprecherin des Verbände-Netzwerks in der Landesarmutskonferenz. Dass es Baden-Württemberg wirtschaftlich gut gehe, verschlechtere die Situation sogar, weil Lebenshaltungskosten und Mieten entsprechend hoch seien: „Armut in einem reichen Land trifft die Betroffenen besonders hart“, so Hahn.
DGB-Sozialexpertin Mia Koch weist auf den Zusammenhang zwischen Armut und Wohnungsnot hin und kritisiert den Rückzug des Landes aus dem sozialen Wohnungsbau. „Nicht nur in den Groß- und Universitätsstädten, auch in den Teilen des ländlichen Raums fehlen hunderttausende leistbare Wohnungen“, so Koch.

Während der Bestand an preisgebundenen sozialen Mietwohnungen landesweit innerhalb von 15 Jahren um 57 Prozent gefallen sei und mittlerweile nur noch bei rund 58 000 Wohnungen liege, habe allein in Stuttgart bereits jeder zweite Einwohner Anspruch auf eine Sozialwohnung. „Das zeigt die Dramatik der Entwicklung,“ so Koch. Der derzeitige starke Anstieg der Kurzarbeit in Baden-Württemberg ist für Koch zudem ein „beängstigendes Alarmsignal“. „Immer mehr Beschäftigte fühlen sich in ihrer Existenz bedroht“, so Koch.

Roland Saurer, Sprecher des Netzwerks Armutsbetroffener, weist darauf hin, dass die Umbauprozesse in der Wirtschaft und die Digitalisierung das Armutsrisiko sogar erhöhen. „Industrie 4.0 setzt eine Menge Wissen, Bildung und permanenter Lernbereitschaft voraus. Auf diesen Prozess sind Menschen in Armutslagen nicht vorbereitet. Der Absturz in Erwerbslosigkeit und Armut ist damit vorprogrammiert“, sagt Saurer. Er fordert Betroffene auf, von unten sozialen Druck auf die Politik auszuüben. „Betroffene sollten sich nicht zuhause vergraben, sondern ihre Stimme erheben und auf ihre Lage aufmerksam machen“, fordert Saurer.
In der Landesarmutskonferenz sind – bundesweit einmalig – Vertreter von Armutsbetroffenen und Wohlfahrtsverbänden gemeinsam aktiv. In der Aktionswoche finden landesweit um die 100 Veranstaltungen zum Thema Armut statt.
Tafel-Nutzung dramatisch gestiegen
Eine „alarmierende Entwicklung“ nennt der Dachverband „Tafel Deutschland e.V.“ die massiv wachsende Zahl der Menschen, die das kostenlose Essensangebot der bundesweit 947 gemeinnützigen Tafeln nutzen. „Das ist erst der Anfang, Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen“, warnt der Tafel-Vorsitzende Jochen Brühl.
- 1,65 Millionen Menschen kommen bundesweit derzeit regelmäßig zu den Tafeln, zehn Prozent mehr als noch 2018.
- Altersbedürftigkeit: 20 Prozent mehr Senioren als im Vorjahr nutzen derzeit die Tafel-Angebote.
- Kinder und Jugendliche stellen mittlerweile fast ein Drittel (30 Prozent) der Tafel-Nutzer.
- 265 000 Tonnen Lebensmittel – pro Minute 500 Kilogramm – werden pro Jahr deutschlandweit von den Tafeln vor dem Wegwerfen gerettet. Es könnten noch viel mehr sein. Bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr weggeworfen. Doch den Tafeln fehlt es vor allem auch an ehrenamtlichen Helfern, Kühlfahrzeugen und Lagermöglichkeiten. (uba)