Es ist eines dieser typischen Reihenhäuser mit vielen Wohnungen in einem Stadtteil von Konstanz. Die Fassade hat ihre besten Zeiten hinter sich. Auf der Straße liegen noch Reste von den Silvesterböllern. Eine Straßenkehrmaschine fegt gerade über den Gehweg. Ein Fahrrad steht neben dem Hauseingang. Hier soll die Familie von Sarah O. nach wie vor wohnen.
Der Fall der jungen Konstanzerin ging 2013 bundesweit durch die Medien. Eine damals 15-Jährige, die mit einer gefälschten Reiseerlaubnis ihrer Eltern über die türkische Grenze nach Syrien reiste, um sich dort der Terrororganisation IS anzuschließen.
Anonymer Hinweis
Die Frau, die den SÜDKURIER kontaktiert, möchte anonym bleiben. Sie macht sich Sorgen ob der möglichen Folgen, wenn ihr Name hier stünde. Deshalb kann diese Zeitung auch die Umstände nicht öffentlich machen, unter denen die Frau die Familie kennt. Aber sie kann es belegen, weiß, wo die O.s leben. Seit vielen Jahren habe sie immer wieder indirekten Kontakt zu den O.s.
Der SÜDKURIER überprüft die Adresse. Und tatsächlich. Auf dem Klingelschild vor dem unscheinbaren Reihenhaus steht der Name der Familie. Eine Frau geht gerade durch die Tür. Sie bestätigt, dass die Familie noch dort lebt, verschwindet dann aber schnell im Hauseingang. Die Türklingel wird sofort beantwortet. „Ja?“, fragt eine männliche Stimme. „Herr O.?“, frage ich zurück. Der Türöffner summt. Im zweiten Stock wartet ein Mann an der geöffneten Wohnungstür, den ergrauenden Bart ordentlich getrimmt, in einem grauen Anzugpullover und passender Hose. Es ist Herr O.
Sarahs Vater weist SÜDKURIER-Berichte zurück
Ich stelle mich vor – Reporterin vom SÜDKURIER. Herr O. schließt die Tür nicht, will aber auch nicht mit dem SÜDKURIER sprechen, sagt er. „Was Sie da geschrieben haben, ist hart. Das stimmt nicht“, fügt er gleich hinzu: „Ein Mann mit Vollbart, das ist immer gleich verdächtig“, sagt er – er fühlt sich angegriffen, vorverurteilt. Ich frage nach – was genau nicht gestimmt habe.
Der SÜDKURIER hat bisher über die Erkenntnisse des Landesverfassungschutzes berichtet, die diese Zeitung von der Behörde selbst bekommen hat. Spezifischer wird Herr O. auf Nachfrage trotzdem nicht. Für eine Klarstellung sei es „zu spät“, meint er. Dann aber sagt er doch: „Die Kinder waren nicht unterdrückt, sie konnten frei entscheiden“, betont er. Mehr will er nicht sagen.
„Vielleicht später irgendwann“, ergänzt er. Die Verhandlung laufe ja noch, der ganze Prozess sei noch im Gange. Seit Mitte Oktober muss sich seine heute 21-Jährige Tochter vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf verantworten. Ihr werden unter anderem die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Menschenhandel vorgeworfen. Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sarahs Vater war als Zeuge geladen, entschied sich aber, von seinem Aussageverweigerungsrecht als Angehöriger Gebrauch zu machen.
Was mit seiner Tochter geschehen ist, beschäftigt den Vater offensichtlich. Im Hintergrund huscht eine Frau mit Kopftuch in eines der Zimmer. Sie kommt nicht an die Tür, sagt kein Wort, ihr Blick ist abgewandt.
Sarahs Weg zum IS
Herr O. steht noch immer an der Tür – unschlüssig, ob er sie schließen soll. Doch dann bricht es doch aus ihm heraus: „Was Sarah gemacht hat, war ihre Entscheidung damals.“ Die Entscheidung einer 15-Jährigen, von der der Landesverfassungsschutz sagt, sie habe sich in den zwei Jahren vor ihrer Abreise radikalisiert. Als sie in Algerien in einer Islamschule war – dem Herkunftsland ihres Vaters.
Sie soll sich nach Informationen der Behörde zu Hause in ihrem Zimmer islamistische Videos angeschaut, über das Internet Kontakt zu Salafisten auf Facebook aufgenommen haben. Wie der Vater diese Zeit erlebt hat, wie sich seine Tochter verändert hat und welchen Einfluss er auf sie hatte – all diese Fragen hätte ich ihm gerne gestellt. Doch dann schließt Herr O. doch die Tür.
Aufgeschlossene Familie
Die Frau, die sich beim SÜDKURIER meldet, aber anonym bleiben will, erzählt von einer Familie, die einst ganz aufgeschlossen war. Der SÜDKURIER trifft sich mit ihr. Ihre Version klingt ganz anders als das, was Herr O. sagt. Sie hat keine Fotos aus der Zeit. Dass sie der Familie begegnet ist, ist aber plausibel.
„Eine ganz reizende Familie“ sei das gewesen, erinnert sich die Konstanzerin. Die Kinder seien noch klein gewesen, als sie sie das erste Mal sah. Die Mutter stammt aus dem Schwarzwald: „eine zierliche Frau und ihre beiden Mädchen bildhübsch“. Die Familie sei früher ins Konstanzer Strandbad Hörnle gegangen, sie im Bikini, er in Badehose, die Mädchen im Schlepptau. „Sie waren ganz aufgeschlossen“, betont die Informantin. Das sollte sich ihren Erzählungen zufolge bald ändern.
Erschreckendes Wiedersehen
Jahre später trifft sie die Mutter und ihre Töchter wieder. „Ich bin richtig erschrocken, wie sie sich verändert hatten“, erzählt die Frau weiter. „Das waren drei schwarz gekleidete Gestalten, da hat nur noch das Gesicht herausgeschaut.“ Die beiden Mädchen seien zu der Zeit etwa zehn und elf Jahre alt gewesen. Aus dem Umfeld der Familie erfährt die Frau, die mit dem SÜDKURIER spricht, dass die Kinder vom Vater „kurz gehalten“ worden sein sollen.
Sie hätten nicht zu Kindergeburtstagen gehen dürfen oder zum Spielen zu Gleichaltrigen. Stattdessen hätten die beiden Mädchen zu Hause sein müssen, wenn der Vater von seiner Arbeit in der Schweiz – er pendelte von Konstanz aus – zurückkehrte. „Sarah hat nicht erst am Humboldt-Gymnasium angefangen, sich anders zu kleiden“, sagt die Informantin, „sondern schon zu Hause. Der Vater hat gesagt, wo es langgeht“. Das könnten alle bestätigen, die damals im Umfeld der Familie lebten, ergänzt die Frau. Die Angaben widersprechen allerdings den Aussagen von Sarahs Mitschülerinnen und Schulleiter Jürgen Kaz – sie alle hatten von einer plötzlichen Veränderung der Gymnasiastin gesprochen.
Aufsässige Jugendliche?
Sarah sei schon damals „aufmüpfig“ gewesen, berichtet die Informantin weiter. Sie habe sich immer wieder gegen den Vater aufgelehnt. Möglicherweise habe sie das schwarze Gewand auf dem Schulweg abgelegt.
Wegen ihrer Auflehnung gegen ihren Vater sei sie schließlich zu den Großeltern nach Algerien geschickt worden – zwei Jahre, bevor sie heimlich nach Syrien reiste: „Das war eine Erziehungsmaßnahme“, gibt sich die Konstanzerin überzeugt. In jeder Zeit habe sich auch die Mutter verändert, sei merklich korpulenter geworden, ging plötzlich am Stock und war „scheinbar psychisch krank“. Die Beschreibung deckt sich mit den Informationen des LKA, die dem SÜDKURIER bekannt sind.
Kurze Zeit später wurde bekannt, dass Sarah nach Syrien ausgereist war. Der Vater gab sich als Opfer der deutschen Behörden, erzählt die Informantin. Sie habe ihn auf die ersten Berichte dieser Zeitung angesprochen. Die Polizei habe nicht genug getan, um sie aufzuhalten, habe Herr O. damals gesagt. Ihre Radikalisierung hat nach Auffassung des Verfassungsschutzes in jenem Sommer in Algerien ihren Ursprung genommen. Doch die Informantin ist überzeugt: „Der Vater hat den Grundstein dafür gelegt.“

Zum Prozessauftakt Mitte Oktober war nur Sarahs Schwester gekommen. Auch sie wollte nicht mit dem SÜDKURIER sprechen. Sarahs Fall wird nicht-öffentlich verhandelt, weil sie zu einem Großteil der Tatzeit noch minderjährig war. Der heute 21-Jährigen werden die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Menschenhandel vorgeworfen. Für den IS soll sie laut Anklage der Bundesanwaltschaft auch Polizei- und Wachdienste übernommen haben. Sarahs Anwalt Ali Aydin sagt, sie habe dem IS abgeschworen. Gerade ist die Verhandlung um drei Monate verlängert worden, Termine wurden bis Ende März festgelegt.
Schwierige Rechtssprechung
Prozesse wie diese sind häufig langwierig – die Beweisführung schwierig, gerade bei Frauen, die dem IS angehörten, weil sie wegen ihrer Verschleierung nur schwer zu identifizieren sind. Die Anklage muss sich auf technische Informationen wie Standortdaten des Smartphones stützen, auf Chatprotokolle und Propagandavideos der Beschuldigten. In Sarahs Fall steht die Versklavung von drei Jesidinnen im Fokus. In der Zeugenliste des Prozesses waren ihre Namen zunächst nicht enthalten. Ob es zu einer Verurteilung kommt, ist offen.
Die Nachbarin der O.‘s schließt gerade ihre Wohnungstür auf, als ich im Begriff bin, zu gehen. Sie lebt seit elf Jahren im Haus, sagt die ältere Dame. Natürlich kennt sie Familie O. Zu Sarah will sie trotzdem nichts sagen – „die kenne ich nicht gut genug“, erklärt sie. Auch zum Vater, den sie eben noch freundlich gegrüßt hat, will die Frau sich nicht äußern. Sie verschwindet in ihrer Wohnung, schließt die Tür.