Diesen Fall hatte sich Chefankläger Thomas Warndorf sehr viel einfacher vorgestellt. Im 17. Jahr seiner Tätigkeit beim Hohen Grobgünstigen Narrengericht zu Stocken setzte ausgerechnet eine Frau seiner rhetorischen Angriffslust enge Schranken. Malu Dreyer, 56, rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin mit SPD-Parteibuch und für den Abend vor das Narrengericht geladen, ließ den Ankläger schon beim Empfang am Vormittag spüren, wer im 666. Jahr nach Hans Kuony den Tag über den Ton angeben sollte. Mit kräftiger Stimme schleuderte die zierliche Frau mit dem rot aufgemalten Herz auf der Wange den 200 geladenen Gästen in der Stockacher Adler Post entgegen: „Nur ein Freispruch wäre gerecht am heutigen Tag.“ Als Pfälzerin sei sie ohnehin „per se unschuldig“. Ihr Appell wurde am Ende nicht erhört. Das Narrengericht verdonnerte die Landesmutter aus der Pfalz zu zweieinhalb Eimer Wein à 60 Liter. Zudem muss sie eine Sozialstunde ableisten und auf dem nächsten Rheinland-Pfalztag am badischen Stand für die schöne Urlaubsstadt Stockach werben.
Die First Lady aus dem Doppelnamenland, nebenbei auch noch Bundesratspräsidentin, setzte mit ihrem Auftritt von Anfang an Akzente. Anfangs im blauen Hosenanzug zeigte sie dem rein männlich besetzten 19-köpfigen Narrengericht, wo es lang ging. Vier Frauen hatten es bislang vor das hohe Gericht geschafft. Von allen war sie aber wohl die Widerspenstigste, und dafür sollte sie schließlich bezahlen. Zum Empfang am Vormittag ließ sich Anna Maria Luise Dreyer von Fürsprech Michael Nadig durch den festlichen Saal geleiten. Hinter ihr, mit britischer Zurückhaltung, Ehemann Klaus Jensen, ehemals Trierer Oberbürgermeister, derzeit Luxemburgischer Honorarkonsul und gelegentlich „Prinz Philip von Rheinland Pfalz“, wie er sich selbst im Gespräch mit dem SÜDKURIER vorstellte („Ich bin immer 2 Inch hinter ihr“).
Jensen gab sich gelassen angesichts der närrischen Übermacht, die seine Frau an diesem Tag erwartete. „Ich weiß ja, dass sie unschuldig ist und vertraue auf unser Rechtssystem“, diktierte er Journalisten in die Feder und fügte an: „Im übrigen würde ich nie mit einer schuldigen Frau zusammenleben.“
So viel Selbstbewusstsein von einer Angeklagten samt Gefolge machte den Narrenrichtern schon früh zu schaffen. Sie hatten es zwar schon mit einem wortgewaltigen Geißler, einem aggressiv schwäbelnden Oettinger und zuletzt mit einem bajuwarisch-dreisten Dobrindt zu tun; aber eine wortgewandt-kämpferische Malu Dreyer war ihnen noch nicht unter gekommen. Noch dazu hatte das Richter-Kollegium einen schlechten Start erwischt, als der noch amtierende Bürgermeister Rainer Stolz ihnen kurz vor seiner Absetzung Parteilichkeit vorwarf und angesichts der „närrischen Gemengelage“ ankündigte, das Urteil nochmals ganz oben von einer tadellosen Instanz überprüfen zu lassen. Sein Satz: „Ich werde diese Frage dem amerikanischen Präsidenten vorlegen“, sorgte im Saal für Tumulte. Zweifelsfrei war dem stolzen Bürgermeister das eigene Mütchen zu Kopfe gestiegen, hatte er doch ganz bewusst am Vortag noch schnell bekannt gegeben, dass er im September für eine dritte Amtsperiode kandidieren werde. Das stieß zwar bei dem neuen Narrenrichter Jürgen Koterzyna auf wenig Gegenliebe, trug ihm aber aus einer anderen Ecke heftiges Lob ein. Alt-Bürgermeister Ernst Ziwey freute sich auf Nachfrage besonders über das Stolzsche Bekenntnis: „Ich wäre ja sonst im nächsten Jahr Uralt-Bürgermeister“, schon deshalb sei diese Nachricht bemerkenswert, ulkte der 84-Jährige.
Für die rote Politikerin Dreyer lief es im schwarzen Stockach erstaunlich gut. Respekt verschaffte sie sich bei dem hohen Gericht mit der trockenen Bemerkung, dass ihr erster Job bei der Staatsanwaltschaft war und daher – mit Blick auf Ankläger Warndorf – sehr wohl das Geschäft kenne. „Im übrigen bin ich es gewohnt wegen dem Wein eingeladen zu werden“, sagte die Pfälzerin. Dabei ahnte sie, dass die Richter es gleich auf mehrere Eimer Wein als Strafe abgesehen hatten. Dem Eindruck, dass die Genossin nur wegen des Pfälzer Tropfens vorgeladen werde, wollte ein weiterer Gast, der Konstanzer SPD-Bundestagskandidat Tobias Volz, allerdings widersprechen. „Malu Dreyer hat mich schon sehr für sich eingenommen“, rückte er gegenüber dieser Zeitung gerade und biss in einen der herzhaften LKW (Leberkäswecken).
Der Angeklagten indessen flogen schon lange vor der Verhandlung die Herzen der Stockacher zu. Schon am Morgen hatte Narrenrichter Koterzyna angemerkt: „Sie wirken auf den ersten Blick charmant.“ Dass sie offen mit ihrer MS-Krankheit umgeht, zeigte Dreyer auf dem Weg durch die Stadt, den sie auf einem kleinen Elektrowagen zurücklegte. Ihre Fröhlichkeit sprang auf das Publikum am Straßenrand über, ihre „Narro“-Rufe versickerten schnell im Jubel. Vor dem Badischen Hof gaben die pelztierähnlichen Yeti für sie ein spontanes Blaskonzert, während Gastwirt Hermann Schmeißer sie zusammen mit der Eintracht von 1836 drinnen mit badischem Liedgut empfing. Seine schwarze Rheinland-Pfalz-Kappe unterstrich die enge touristische Verbundenheit mit dem Nachbar-Bundesland.
Trotz der schweren Last der heraufziehenden Verhandlung zeigte sich die Angeklagte am Nachmittag gelöst auf dem Balkon der Narrenstube, während unten die Zimmermannsgilde den Narrenbaum bei frühlingshaften Temperaturen in die Vertikale wuchtete. Malu Dreyer war offenkundig aus der Heimat an den Bodensee geflohen, wo sie schon öfter war. Statt Weiberfastnacht nun also der Schmotzige. Und sie zeigte im Gespräch mit dieser Zeitung hohen Respekt für Stockachs Heer von Ehrenamtlichen, die keinen Aufwand scheuten. „Es macht mir riesig Spaß, die Menschen hier sind wahnsinnig herzlich“, sagte Dreyer. Sie komme sich „nicht vor wie eine Angeklagte, sondern werde regelrecht umhegt.“
Das sollte sich am Abend dann noch ändern. In der voll besetzten Jahnhalle klagte Thomas Warndorf die „Frau weiblichen Geschlechts“ vor laufenden SWR-Kameras an, den Flughafen Hahn in einem trumpalen Deal vermasselt zu haben, die Landespolitik wissentlich karnevalisiert zu haben sowie des Verrats am sozialdemokratischen Grundkonsens, der eigentlich heißt: Wahlen zu verlieren. Punkten konnte er mit der Vorladung des „Problem-Wolfs“ aus Tuttlingen punkten. Baden-Württembergs Minister für Justiz, Europa und Tourismus interpretierte das Märchen vom Rotkäppchen und dem Wolf recht eigenwillig. „Wenn der schwarze Wolf das Rotkäppchen verschlingt, spricht man von schwarzroter Koalition.“
Mit einer grandiosen Verteidigungsrede setzte die Angeklagte das Richtergremium schließlich in Verlegenheit. Vielleicht war es ihr inzwischen signalrotes Kostüm, vielleicht auch ihre kecke Art, mit dem „hohen hochbrünstigen Narrengericht“ umzuspringen, was die hohe Strafe letztlich nach sich zog. Doch Dreyer kämpfte tapfer gegen das wohl längst schon gefasste Urteil an, forderte den Verstand zu benutzen anstatt die Leber zu belasten und beharrte darauf, dass Stockach den Bodensee verfehlt habe. Und sie verstand es, ähnlich wie ihr Vorredner Guido Wolf, aus Niederlagen Siege zu zimmern. So konterte sie die Anklage, die ein Schreiben aus der Mainzer Staatskanzlei mit sechs Fehlern ausgegraben hatte, mit dem klugen Satz: „Sechs Rechtschreibfehler in sechs Sätzen? Es geht um ein sozialdemokratisches Prinzip: Jeder Satz hat seinen eigenen Fehler.“ Mit einem Stoßgebet bat Dreyer schließlich um den Schutz vor Populisten und setzte damit einen vom Publikum frenetisch gefeierten Schlussakkord. Doch es half nichts: Malu Dreyer, die vorgab, zu einer Zeit der SPD beigetreten zu sein, „als rote Blutkörperchen noch als verdächtig galten“, die ankündigte, sie werde einen Antrag auf Artenschutz für ihre Genossen in Baden-Württemberg stellen – diese Malu Dreyer verließ trotz Urteils erhobenen Hauptes den Saal. Immerhin machte sie öffentlich, welche Erkenntnis sie nach Rheinland-Pfalz mitnehmen werde: „Dass ein Narrengericht kein Essen ist.“
Das Narrengericht
- Das Gericht: Jedes Jahr tagt das Hohe Grobgünstige Narrengericht zu Stocken am „Schmotzigen Dunschtig“. Dabei wird seit vielen Jahren schon eine prominente Person angeklagt. In der Regel eine Politikerin oder ein Politiker von hohem Bekanntheitsgrad. Das Brauchtum geht auf das Jahr 1351 zurück. Damals wurde den Stockachern ein wichtiges Privileg verliehen: Sie durften jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit ein Narrengericht abhalten. 1960 wurde das Narrengericht in moderner Form wiederbelebt.
- Die Überlieferung: Am Vorabend der Schlacht am Morgarten (1315) gegen den Schweizer Gründerkanton Schwyz sagte Hofnarr Kuony von Stocken nach einer Überlieferung an die Adresse Erzherzog Leopolds I. von Österreich: „Ihr wisst wohl, wie Ihr nach Schwyz hineinkommt, aber nicht, wie raus.“ Keiner in der Runde nahm die Worte des weisen Narren damals so recht ernst. Die Folgen aber waren desaströs: Die Schlacht am Morgarten ging verloren, der Erzherzog musste selbstkritisch einräumen, er hätte auf seinen Narren hören sollen. Und so wurde Kuony ein Wunsch freigestellt. Der wollte ein Privileg für seine Heimatstadt Stockach: Einmal im Jahr, zwischen Lichtmess und Laetare, sollten die Bürger selbst richten dürfen. Das Privileg wurde auch gewährt. In schriftlicher Form allerdings verlieh es erst Herzog Albrecht von Habsburg im Jahr 1351.
- Die Besetzung: Das Narrengericht besteht aus dem Ankläger, Narrenrichtern und dem Fürsprech. Sie wählen jedes Jahr erneut einen Beklagten aus der Landes- oder Bundespolitik. Die Strafe, meist in Form eines guten Weines, der sich nach dem österreichischen Hohlmaß von 60 Litern je Eimer bemisst, muss bis Laetare (in diesem Jahr der 26. März) abgeliefert werden. Erster Beklagter der Neuzeit war Kurt Georg Kiesinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg. (sk)