Neulich wollte er wieder hoch auf den Baum. Um für das Klima zu demonstrieren. Dann aber, endlich, passierte etwas. Die Hochschule Ravensburg-Weingarten handelte. Sie setzte das um, was Wolfgang Ertel gefordert hatte. Auf der Trauerweide im Mai 2021. Jetzt muss er deshalb vor Gericht. Die Geschichte eines Professors, der es bürokratisch versucht hat und daran gescheitert ist.
Der Campus döst in der Februarsonne. Leere Gänge in leeren Fakultäten. Ein paar Studierende huschen vorbei, Semesterferien. Es brennt deshalb kein Licht, auch nicht im Büro von Wolfgang Ertel, Gebäude E, erster Stock. Der Professor, Jahrgang 1959, muss Klausuren korrigieren. Er sitzt zwischen Büchern und Ordnern. Vor ihm eine Tafel, daneben ein Monitor.

Das Bild von einem Büro, wie man es malen könnte, so eingestanden die Regale. Kartons aber zeugen davon, dass der Professor gerade erst eingezogen ist. Der schlanke, groß gewachsene Mann mit der markanten Nase hat seit den 90er-Jahren das Institut für Künstliche Intelligenz an der Hochschule geleitet, vergangenes Jahr hat er es abgegeben. Damit er mehr Zeit habe, um seine Botschaften zu teilen, wie er sagt.
„Ich habe Angst um die Zukunft der Menschheit“, sagt Ertel. „Wir befinden uns in einer dramatischen Situation.“ Der Klimawandel sei existenzbedrohlich, die meisten Menschen seien sich dessen gar nicht bewusst. „Wenn wir erst in ein bis zwei Jahren tätig werden, dann ist das zu spät.“ Aber die Gesellschaft tue nichts.
Geboren ist Ertel in der Schweiz, ein wirklicher Schweizer aber ist er nicht. Die Eltern lebten an der Grenze, das nächste Krankenhaus, in dem auch seine Mutter entbunden hatte, stand in Laufenburg im Kanton Aargau. Die Familie blieb nicht lange dort, zog nur wenige Jahre später ins Allgäu, in Leutkirch wuchs Ertel auf. Daran erinnert eine freundliche sprachliche Färbung. Mit derselben betont der Informatiker, dass er frustriert sei. Warum?
„Weil ich sehe, dass wir das Problem ignorieren.“ Erst die „Fridays For Future“-Bewegung und die schwedische Aktivistin Greta Thunberg hätten ihm gezeigt, dass sich daran etwas ändern könnte. Diese jungen Leute seien frech, meint er, sie seien medienaffin. Allerdings fehlten die Antworten auf die Fragen der Politik, das Wissen. Also gründete der Professor die „Scientists For Future“ für alle Wissenschaftler, die protestieren wollen. „Wenn die jungen Leute auf die Bäume steigen und wir Wissenschaftler dabei sind, dann hat das Strahlkraft.“
Warum hat er einen Baum besetzt?
Obwohl sein Büro danach aussieht, entspricht der Hochschullehrer nicht dem, was man sich unter seiner Fachkombination vorstellen könnte. Wolfgang Ertel, Hemd, Jeans, unrasiert, befasst sich mit Robotern. Mit Mathematik und Informatik. Der 62-Jährige sagt, er klettere gerne. Wolfgang Ertel mag die Natur. Das aber erklärt noch lange nicht, weshalb ein Professor einen Baum besetzt. Wie also kommt er dazu?

Rückblick. Im Sommer 2020 hat die Stadt Ravensburg einen Klimakonsens beschlossen. Die wichtigste Zahl darin hat Wolfgang Ertel formuliert: 13 Prozent. Um diesen Wert muss die Stadt ihren CO2-Ausstoß verringern, um den Zielen des Pariser Klima-Abkommens zu entsprechen. Einen Beitrag für diesen Klimakonsens sollte auch die Hochschule Ravensburg-Weingarten leisten. Mit einer Vortragsreihe, vor allem aber mit Klimamanagement. „Das hat mich motiviert, der Hochschule Druck zu machen“, sagt Ertel. Denn hier habe es schon lange ein Problem gegeben: die Heizung. „Das geht zehn Jahre zurück.“
Zu wenig Personal, um Heizkosten zu sparen
Die Heizkörper der Hochschule sind durchgängig in Betrieb, selbst in den Winterferien. Durch Zufall habe er das bemerkt, erläutert Ertel. Der technische Betriebsleiter, der dafür zuständig ist, aber winkte schon damals ab, man habe nicht das nötige Personal. Ertel war irritiert: „Das muss man sich vorstellen, die Hausmeister sind nicht in der Lage, die Heizkörper am Tag vor den Ferien auszudrehen.“ Schließlich habe er selbst, teils mit Kollegen, Heiligabend-Vormittage damit verbracht, durch die Säle zu ziehen, um die Heizungen auszuschalten. Jahr für Jahr. Eine Farce, wie er findet.
Techniker finden für Probleme oft technische Lösungen. Auch Wolfgang Ertel. Sein Ansatz: Heizkörperthermostate, die über W-LAN bedient werden können. Verbinde man die mit den Stundenplänen der Hörsäle, schalte sich die Heizung vollautomatisch an und aus. Eine Idee, die der 62-Jährige als Nachhaltigkeitsbeauftragter forcierte: „In diesem Amt hat man wenigstens einen Hebel in der Hand.“

So beschritt er den Dienstweg. Er sprach mit Ämtern, zwei Hochschulen, drei Ministerien, um das Konzept umzusetzen. Er startete ein Pilotprojekt, schrieb einen Projektantrag. Erfolglos. „Bürokratie ist übel“, sagt der Mann, der sich selbst für einen Optimisten hält. 2018 schmiss er das Amt des Nachhaltigkeitsbeauftragten hin und regelte die Dinge ab sofort anders.
Am 11. Mai 2021, es waren die Nachhaltigkeitswochen an der Hochschule, stieg er auf einen Baum. Die Trauerweide mit den knorrigen Ästen gleich neben Gebäude K. Er kletterte nicht allein, sondern mit Aktivisten von „Fridays For Future“ – mit Bannern und Sicherheitsgurten, vorbei an der Polizei, die sie aufhalten wollte. Um 11.30 Uhr war Pressekonferenz. Ein Erfolg für die Aktion.
Das Echo sei riesig gewesen, sagt Ertel. Und größtenteils positiv. Sogar Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Bündnis 90/Die Grünen) rief bei ihm an und versprach, seinen Impuls zu unterstützen. Aber: Neben zwei böswilligen Zuschriften kam bei dem Professor auch ein Brief der Staatsanwaltschaft an: ein Strafbefehl, 100 Tagessätze, insgesamt 4000 Euro, weil er eine nicht angemeldete Versammlung geleitet habe. „Heftig“, findet der Baumbesetzer, „zumal völlig unangemessen.“ Ertel hat Einspruch eingelegt. Am 24. März findet der Prozess am Amtsgericht in Ravensburg statt. „Ich habe extra einen großen Saal anfragen lassen.“ Professoren mögen Publikum.

Auch in der Verhandlung will der Hochschullehrer seine Geschichte erzählen, vom Kampf fürs Klima, dem Einsatz für intelligente Beheizung. Ertel ist überzeugt, dass er mit seiner Aktion der Gemeinschaft einen Dienst erwiesen hat. Den Beweis habe er Schwarz auf Weiß: eine Stellenausschreibung, in der die Hochschule Ravensburg-Weingarten nach einem Klimaschutz-Manager sucht. Eine Konsequenz aus seinem Bestreben? Außerdem hat die Hochschule erste intelligente Thermostate in einem Gebäude installieren lassen. Ein guter Versuch, meint der Initiator, wenn auch bei Weitem nicht genug.
Er sei kein Öko-Revoluzzer, sagt Wolfgang Ertel. Ihm gehe es um die Rettung der Welt. Pathetisch? Vielleicht. Ist aber so, meint der 62-Jährige. Auch deshalb wolle er vorzeitig Pension beantragen, um mehr Zeit dafür zu haben. Ertel hat viele Ideen. Eine Photovoltaik-Initiative für Ravensburg, die die Stadt nicht umsetzt, obwohl sie im Klimakonsens aufgelistet sei. Eine Flyer-Aktion für die Pendler-App, die er insbesondere in Schulumgebungen starten will. Und natürlich seine Nachhaltigkeitsvorlesung – die möchte Wolfgang Ertel selbst in seiner Rente regelmäßig halten. „Denn da habe ich das Gefühl, noch etwas erreichen und bewegen zu können.“