Zum Beispiel heiraten: Was etwa in den USA ganz spontan möglich ist, bedarf hierzulande langwieriger Formalitäten beim Standesamt. Dem nicht genug, pochen immer mehr Deutsche auf den Ehevertrag. Man weiß ja nie.

Und weil die Lebensrealität schon nach wenigen Jahren eine ganz andere sein kann, mahnt ein Münchner Notar auf Spiegel online zusätzlich zur Vorsicht: „Auch Eheverträge müssen zum Tüv.“ Möglichst alle fünf Jahre Anwaltstermin wäre optimal. Klären, wer nach aktuellem Stand den BMW behalten dürfte und wer bloß das Kaffeeservice von Schloss Elmau. Deutscher geht‘s nimmer.

Bürokratie ist Ergebnis absurden Denkens

Es ist viel von überbordender Bürokratie in diesem Land die Rede und von der Notwendigkeit, sie zu beseitigen. Dabei scheint bisweilen die Vorstellung durch, es handele sich um ein auf unerklärliche Weise in die Gesetzgebung eingedrungenes Virus. Als habe das alles gar nichts mit unserer Kultur, unserer Mentalität unserem spezifischen Blick auf die Welt zu tun.

Die Wahrheit ist, dass die absurden Beispiele nur das logische Ergebnis eines ebenso absurden Denkens sind. Die vom Milchgehalt abhängige Unterscheidung zwischen 7 und 19 Prozent Mehrwertsteuer für eine Tasse Kaffee.

Die schriftliche Protokollpflicht nach mündlicher Beratung für den Heizungsinstallateur. Das Geländer, das im Betrieb zehn Zentimeter höher eingebaut gehört als im Privathaus: All das hat sich mal jemand ausgedacht. Jemand, der es für notwendig und sinnvoll hielt. Weil wir eben so ticken. Weil wir es doch selbst so wollen.

Jede Hundehütte braucht einen Rauchmelder

Deutsch sein, das heißt im 21. Jahrhundert, an Waldwegen sämtliche Ruhebänke abzuräumen, bevor womöglich ein Wanderer darauf von einem Ast erschlagen wird. Es bedeutet, im Namen der Sicherheit romantische Schluchten mit gigantischen Stahlgerüsten zu verschandeln, leicht krumm gewachsenes Obst im Müll zu entsorgen, noch in jeder Hundehütte Rauchmelder mit Wartungspflicht zu installieren.

Oder eben: die Liebe seines Lebens alle fünf Jahre zum Tüv zu bringen. Nachschauen lassen, ob bei ihr nicht doch eine Schraube locker ist. Denn einfach heiraten, ganz ohne zu bedenken, was da alles Schlimmes passieren kann? Man könnte glatt meinen, so jemand sei wohl verliebt. Das fehlte noch!

Zwanghaftes Handeln zeugt von Angststörung

In der Psychologie gilt zwanghaftes Handeln als Ausdruck einer Angststörung. Wer sich in jeder einzelnen seiner Handlungen immer von potenziellen Bedrohungsszenarien leiten lässt, der tut das vielleicht im Glauben besonders ausgeprägten Sicherheits- und Verantwortungsbewusstseins. In Wahrheit setzt er sich mit der manischen Aneinanderreihung immer neuer Richtlinien nur selbst schachmatt.

Die Bundeswehr zum Beispiel hat es vor lauter Paragrafenreiterei nicht geschafft, in 15 Jahren ein dringend benötigtes Flugzeug zu bestellen. Jetzt besteht eine gravierende Sicherheitslücke.

Das Land kann keine Entscheidung mehr treffen

Bei Panzern, sagt ein ehemaliger Offizier der Wochenzeitung Die Zeit, streite man derweil „über Feinstaubwerte und schwangerschaftstaugliche Sitze“. Das ist doch lächerlich? Hand aufs Herz: Wann haben Sie denn zuletzt um Grenzwerte gefeilscht oder die Bahn wegen verfallener Sitzplatzgarantie belangt?

In einer sich ständig verändernden Welt kann nur bestehen, wer Entscheidungen trifft. Genau dazu ist dieses Land schon lange nicht mehr in der Lage. Es hat sich stattdessen einer Strategie der Scheinentscheidung bemächtigt, also des Inszenierens vermeintlich mutiger Maßnahmen bei gleichzeitig weitgehender Folgenlosigkeit.

Hinter der Showkulisse soll sich nichts ändern

Dann werden Klimaschutzziele definiert, Grenzkontrollen angekündigt, Sanktionen versprochen. Doch all das geschieht nur mit Hintertüren, Ehevertrag und fünfjährlicher Tüv-Kontrolle, damit hinter der Showkulisse alles möglichst so bleiben kann, wie es schon immer war.

Entscheiden würde ja bedeuten, bestehende Verhältnisse zu ändern. Die Reise in die Zukunft auch mal ohne Rückfahrkarte anzutreten, ja überhaupt erst einmal die Fantasie für ein mögliches Ziel aufzubringen.

Überraschungen können das Leben bereichern

Wer nichts anderes kennengelernt hat, als Sicherheitsrisiken aufzuspüren und mit Paragrafen Bedrohungswahrscheinlichkeiten im Promillebereich einzudämmen, der ist gewiss ein erfolgreicher Versicherungsvertreter. Aber ansonsten lebensuntauglich.

Es ist wohlfeil, von Regierungen zu verlangen, was das Volk selbst nicht zu leisten vermag. Solange wir Bürger nicht bereit sind, uns den gesellschaftlich verfestigten Sicherheits-Neurosen zu stellen, muss jedes noch so gut gemeinte Antibürokratie-Programm scheitern.

Kindern vorzuleben, dass man sehr wohl zu Fuß zur Schule gehen kann, dass es nicht für jede Fünf in Latein einen Anwalt braucht, dass Spontaneität, Überraschung, Improvisation insgesamt das Leben enorm bereichern können: Das wäre ein erster Schritt heraus aus dem Paragrafendschungel.