Hinter manch unscheinbarem Massagestudio in der Region verbirgt sich in Wahrheit ein ganz anderes Geschäft. Das belegen zahlreiche Einträge in einem einschlägigen Online-Forum, in dem sich Männer über ihre Erfahrungen austauschen. „Für mich das Beste, was man hier in der Region bekommt“, schreibt etwa Chris über einen chinesischen Massagesalon in Gottmadingen – und meint damit sexuelle Handlungen, die Frauen dort anbieten müssen.
Die Bewertungen in dem Forum sind schwer erträglich und geben doch Einblicke in eine frauenverachtende Welt, die jetzt auch die Polizei ins Visier genommen hat: „Oft gibt‘s in solchen Etablissements ja munteres Gestreichel und fragwürdiges Gedrücke. Hier war und bin ich sehr positiv überrascht worden. Attraktive junge Dame – hier arbeiten wohl unterschiedliche“, schreibt Chris weiter.

Sein Eintrag legt auch das Geschäftsmodell der Kriminellen offen: Für eine 60-minütige Massage mit „Happy End“, also Handjob bis zum Orgasmus, zahlte er nach eigenen Angaben 80 Euro. Wer zusätzlich „Body-to-Body“ will, bei dem die Masseurin den Kunden mit ihrem eingeölten Körper massiert, muss 40 Euro drauflegen. Auch viele weitere Nutzer berichten von diesen Sex-Dienstleistungen.
„Plötzlich gab‘s ein Riesengeschrei“
Groß dürfte die Überraschung bei zahlreichen Männern gewesen sein, als der vermeintliche Massagesalon in Gottmadingen ab Mitte November plötzlich zu war. „Bin hingefahren und das Schild an der Tür war weg. Klingeln war auch erfolglos. Wahrscheinlich geschlossen. Weiß jemand etwas Genaueres?“, fragt ein Mann im Online-Forum.
Am Morgen des 14. November haben die Behörden dem illegalen Treiben ein vorläufiges Ende gesetzt. Ein Großaufgebot von Zoll und Polizei hat das Etablissement gestürmt, wie mehrere Augenzeugen berichten: „Einige Zivilfahrzeuge und viele Beamte sind da gewesen, teilweise mit Sturmhaube“, sagt Anja Z. dem SÜDKURIER. Ihre Arbeitskollegin Ute Z. ergänzt: „Ich habe in den hinteren Geschäftsräumen gearbeitet, als die Polizei gekommen ist. Plötzlich gab‘s ein Riesengeschrei von Frauen.“

Zahlreiche weitere Razzien
Ein Mitarbeiter eines anderen benachbarten Geschäfts berichtet von vermummten Männern eines Spezialeinsatzkommandos, die den chinesischen „Massagesalon“ in Gottmadingen stürmten. „Es ist ein ziemlicher Aufruhr gewesen. Die Aktion hat offenbar dem Rotlichtmilieu gegolten. Ich habe vorher gar nicht gewusst, dass es dort einen Massagesalon gibt“, sagt der Mann.
Ähnlich ist es auch Anja Z. und Ute Z. ergangen: „Die Razzia ist unglaublich, weil wir vorher überhaupt nichts mitgekriegt haben.“ Nicht einmal Gerüchte habe es gegeben. „Dass im kleinen Gottmadingen so etwas vor sich geht, ist erschreckend“, sagt Ute Z.
Dabei war die Razzia bei Weitem nicht die einzige. Zeitgleich durchsuchten Spezialkräfte von Zoll und Polizei 13 weitere Objekte in Baden-Württemberg sowie eines in Frankfurt am Main, wie die zuständige Staatsanwaltschaft Konstanz dieser Redaktion bestätigt.
Observations- und Festnahmeeinheiten im Einsatz
Der Schwerpunkt der Razzien lag in Villingen-Schwenningen, wo die Polizei gleich drei Gebäude durchkämmte. Darunter sind ein Massagesalon und zwei Wohnungen, in denen gemäß Recherchen dieser Redaktion offenbar ebenso illegale Sex-Massagen angeboten wurden.

Weitere Razzien fanden in sechs Wohnungen in Konstanz, Rielasingen, Gailingen, Schonach, Burladingen und Rastatt statt. Hinzu kommen laut Staatsanwaltschaft Durchsuchungen in vier weiteren Massagesalons in Tuttlingen, Geisingen, Reutlingen und Neuenburg am Rhein. 268 Zollbeamte waren im Einsatz, zudem Einheiten der Polizei.
Hilflosigkeit und Zwangslagen ausgenutzt?
„Gegen zehn Beschuldigte führen wir Ermittlungen unter anderem wegen des Vorwurfs der Zwangsprostitution, des banden- und gewerbsmäßigen Menschenhandels, der Steuerhinterziehung und der Urkundenfälschung“, sagt Johannes-Georg Roth, Leiter der Konstanzer Staatsanwaltschaft. Unter den zehn Beschuldigten sind vier Chinesinnen, vier Chinesen und zwei Deutsche.
Es besteht der Verdacht, dass die Beschuldigten mehrfach Frauen mit chinesischer Nationalität eingeschleust und in Massagestudios in der Region beschäftigt haben. Dabei sollen sie die Hilflosigkeit und die persönliche und wirtschaftliche Zwangslage ihrer Opfer ausgenutzt haben. Die daraus erzielten Einkünfte sollen die Tatverdächtigen den Chinesinnen, die sich großteils illegal in Deutschland aufhalten, vorenthalten und veruntreut haben.
Rund 200 Geräte beschlagnahmt
Wie viele Opfer es gibt, wollen die Behörden wegen der laufenden Ermittlungen noch nicht bekannt geben. Einen Hinweis auf das Ausmaß liefern jedoch die 63 sichergestellten Smartphones und die mehr als 120 beschlagnahmten Datenträger, darunter Computer und Festplatten. „Die Ermittler gehen von organisierten Strukturen aus“, erklärt die Staatsanwaltschaft Konstanz auf Anfrage.

Einer der wenigen Experten auf diesem Gebiet präzisiert: „Wir können davon ausgehen, dass hinter den durchsuchten Massagestudios organisierte Kriminalität aus China steckt – die chinesische Mafia“, sagt Robert Harnischmacher dem SÜDKURIER. Der 76-Jährige hat Polizei- und Verfassungsschutzbehörden in Sicherheitsfragen beraten, in China und Japan zum Thema geforscht sowie an der Ruhr-Universität Bochum gelehrt.
Die zahlreichen organisierten Verbrechersyndikate aus China würden auch „Triaden“ genannt und verfügten weltweit über Hunderttausende Mitglieder. Der Name „Triade“ stammt von ihrem Symbol: Himmel, Erde und Mensch in einem Dreieck. „Anders als die italienische Mafia sind sie lockerer organisiert und weniger hierarchisch“, schreibt Harnischmacher in einem Beitrag für die interne Fachzeitschrift „Die Kriminalpolizei“ der Polizei-Gewerkschaft.
Schwerpunkt der Triaden auch in Baden-Württemberg
Der „große Bruder“ an der Spitze einer Triade müsse nicht über alle kriminellen Aktivitäten von Untergruppen informiert werden. Die Chefs würden oft selbst wie erfolgreiche, legitime Geschäftsleute agieren und nur bei Konflikten schlichtend eingreifen. „Triaden sind überall dort aktiv, wo es chinesische Gemeinden gibt“, so Harnischmacher.
In Deutschland liege der regionale Schwerpunkt der chinesischen Mafia in Bayern, mit einigem Abstand dahinter folge Baden-Württemberg und Hessen. „Die deutschen Behörden hatten lange Zeit keine Übersicht. Sie kannten die Strukturen der kleinen, aber rasch wachsenden chinesischen Gemeinde nicht“, so der Mafia-Experte.

Der auffälligste Hinweis für die Ausbreitung der Triaden in Deutschland sei die sprunghafte Zunahme chinesischer Restaurants: 1990 waren es etwa 3000, dreißig Jahre später soll es laut Medienberichten mehr als 10.000 China-Restaurants in der Bundesrepublik geben. „Einige haben wenig Gäste, aber erstaunlich wohlhabende Inhaber“, sagt Harnischmacher.
Die kriminellen Betätigungsfelder der Triaden reichen dem Experten zufolge unter anderem von Menschenhandel, Prostitution und Schutzgelderpressung über Drogenproduktion, Glücksspiel bis hin zu Entführungen, Organhandel und Auftragsmorden.
Das Massaker von Sittensen
Für weltweite Schlagzeilen sorgte die Ermordung von sieben Menschen asiatischer Herkunft in einem China-Restaurant im niedersächsischen Sittensen im Jahr 2007. Die Eigentümer und ihre Mitarbeiter waren zunächst misshandelt und dann regelrecht hingerichtet worden. Nur ein zweijähriges Mädchen blieb verschont.
Fünf Vietnamesen wurden nach 107 Verhandlungstagen zu teilweise lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Laut Harnischmacher kooperieren die Triaden nicht nur mit vietnamesischen Gruppierungen, sondern auch mit der japanischen Mafia „Yakuza“, mit italienischen Syndikaten und asiatischen Geheimdiensten. „Das Landeskriminalamt Bayern schätzt, dass von hundert Straftaten höchstens eine bekannt wird, wenn die Triaden ihre Finger im Spiel haben“, schreibt der Experte.
Für 10.000 Euro eine neue Existenz in Deutschland?
Laut einem EU-Papier über organisierte Kriminalität aus Asien basiert Menschenhandel auf Ausbeutung und Gewalt. Gemäß der europäischen Polizeibehörde Europol werden immer mehr Chinesinnen als Zwangsprostituierte ausgebeutet.
Dem Experten Harnischmacher zufolge locken chinesische Schleuserorganisationen ausreisewillige Landsleute mit dem Versprechen nach Deutschland, sie könnten sich hier eine neue Existenz aufbauen, wenn sie zwischen 10.000 und 30.000 Euro bezahlen. „Sie haben nicht das Geld, um die Kosten für die Schleusung zurückzuzahlen und sich freizukaufen – sie werden ihr ganzes Leben ausgenutzt“, sagt Harnischmacher dieser Redaktion.
Extreme Zurückgezogenheit und hohe Dunkelziffer
In Österreich hat die chinesische Mafia laut Medienberichten aus dem Jahr 2013 sechs geschleusten Chinesinnen die Pässe abgenommen. Die Frauen sollten 180.000 Euro Kosten für ihre Schleusung nach Europa in drei illegalen Massagesalons in Wien als Prostituierte abarbeiten, konnten von der Polizei jedoch befreit werden.

Opfer von Menschenhandel arbeiteten gemäß Europol nicht nur im Sexgewerbe, sondern etwa auch in der Bauindustrie, im Gastgewerbe oder in der Krankenpflege. Unter anderem „die extreme Zurückgezogenheit, die für chinesische Gemeinden in einigen Mitgliedstaaten typisch ist“ führe zu einer großen Dunkelziffer, wird Europol in dem EU-Papier zitiert.
Gaunersprache und Dialekte erschweren Ermittlungen
Diese Faktoren, die verschiedenen chinesischen Sprachen und Dialekte sowie eine eigene Gaunersprache würden dem Experten zufolge die Arbeit der Behörden erschweren. „Ermittlungen gegen Chinesen sind schon durch den Sprachfaktor sehr arbeitsintensiv und fordern eine hohe Kapazität. Nicht nur ein, sondern mehrere Dolmetscher müssen für die unterschiedlichen Dialekte eingesetzt werden. Damit steigen die Ermittlungskosten“, sagt Harnischmacher.
Experten für organisierte Kriminalität aus China gibt es weder beim Hauptzollamt Singen noch bei der Staatsanwaltschaft Konstanz, wie diese erklärt. Deswegen schult nun das Bundeskriminalamt (BKA) in Workshops die Ermittler vom Bodensee, tätigt Abfragen und stellt seine Expertise zur Verfügung.
„Vergleichsweise frühes Stadium“
Nach Angaben des Konstanzer Staatsanwalts Johannes-Georg Roth werden seit den Razzien Mitte November eine Vielzahl von Daten und Dokumenten ausgewertet und zahlreiche Zeuginnen und Zeugen vernommen.
„Es gilt, ein Gesamtbild von der Tätigkeit der Beschuldigten zu gewinnen und die von ihnen geschaffenen Strukturen aufzuklären. Das Sprachproblem erleichtert, oder besser gesagt, beschleunigt die Auswertungen leider nicht“, so Roth. Selbst mehr als zwei Monate nach den Razzien seien die Ermittlungen noch in einem „vergleichsweise frühen Stadium“ und die zehn Beschuldigten auf freiem Fuß. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.