Joachim Walter ist vor einigen Wochen mit einem simplen Rechenbeispiel quasi über Nacht bundesweit bekannt geworden. Der CDU-Politiker ist Präsident des baden-württembergischen Landkreistags und Landrat im Landkreis Tübingen, seine kommunalpolitischen Anliegen gehen normalerweise nicht auf Internet-Plattformen viral. Dieses Mal war es anders.
Im Internet wurde ein Interview vielfach geteilt, das Walter Ende September der SWR1-Radiosendung „Leute“ gegeben hatte. Es ging um die Situation der Kommunen bei der Unterbringung von Flüchtlingen – und speziell um ukrainische Geflüchtete.
Mehr als 3000 Euro für eine vierköpfige Familie
Walter hatte in dem Interview die Leistungen beispielhaft für eine vierköpfige ukrainische Flüchtlingsfamilie auf Grundlage der ab Januar 2024 gültigen Sätze aufgezählt: jeweils 506 Euro für die Eheleute, 471 Euro für das 14-jährige Kind, 390 Euro für das zwölfjährige Kind – zusammen 1930 Euro. Dazu kommen die Mietkosten, als Beispiel 90 Quadratmeter in Tübingen, 959 Euro kalt, plus 129,60 Euro Heizkosten plus 195,30 Betriebskosten, ergibt 1283,90 Euro. Plus weitere Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket.
„Eine vergleichbare Familie mit Arbeitseinkommen und ohne Bezug staatlicher Leistungen müsste dafür 3200 bis 3500 Euro netto nach Hause bringen“, hatte Walter vorgerechnet. Und das könne einfach nicht so weitergehen. „Da haben wir eine falsche Weichenstellung, wir legen die Menschen damit in die berühmte soziale Hängematte.“ Das sind Leistungen, die es in dieser Höhe und in diesem Umfang so nirgends sonst in Europa gibt.

Walter machte den Ukraine-Flüchtlingen selbst dabei aber keinen Vorwurf, sondern zeigte Verständnis: „Wenn wir die Möglichkeit hätten zu wählen, wohin wir gehen, wenn wir vor Krieg, Vertreibung auf der Flucht wären, würden wir uns genauso verhalten. Der Bund setzt die falschen Anreize und wir müssen das korrigieren.“ Die Rückmeldungen zum Interview erschlugen Walter geradezu. „Zu 99 Prozent habe ich Zustimmung erfahren“, sagt er, „aber ich habe auch von einer Seite Zustimmung bekommen, auf die ich verzichten kann.“
Der Hintergrund: Ukrainische Geflüchtete haben seit dem sogenannten Rechtskreiswechsel, den die Bundesregierung im Juni 2022 beschlossen hatte, im Gegensatz zu Asylsuchenden oder Geflüchteten anderer Nationalitäten den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen nach Sozialgesetzbuch (Zweites Buch) wie deutsche Staatsbürger.
Bedürftigkeit und Vermögen werden nicht geprüft
Damit erhalten ukrainische Flüchtlinge nicht nur eine höhere Grundsicherung – das Bürgergeld –, sondern auch sofortigen Zugang zu den gesetzlichen Krankenkassen, zu Sprach- und Integrationskursen, zu Bildungsangeboten, haben Anspruch auf Kita- und Kindergartenplätze und Schulunterricht. Allerdings ohne eine genaue Bedürftigkeitsprüfung und Prüfung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse – was umständehalber bei den Ukrainern gar nicht möglich ist.
Das macht Deutschland als Zielort attraktiver als andere Staaten. Deutschlandweit lebten Anfang Oktober rund 1,2 Millionen ukrainische Flüchtlinge, von ihnen bekommen rund 700.000 Bürgergeld. Allein in Baden-Württemberg sind 176.898 untergekommen – zweieinhalbmal so viel wie in ganz Frankreich mit 70.570 geflüchteten Ukrainern.
Zugleich zeigt sich noch in einer anderen Statistik eine Auffälligkeit: In Deutschland gehen – hochgerechnet aus den Daten der Agentur für Arbeit vom Mai 2023 – lediglich rund 19 Prozent der erwerbsfähigen ukrainischen Flüchtlinge einer Beschäftigung nach.
In anderen Staaten ist diese Zahl weitaus höher. Das dänische Beschäftigungsministerium etwa beziffert die Zahl der arbeitenden Ukrainer auf 50 bis sogar 75 Prozent der Erwerbsfähigen, die Niederlande nennen über 46 Prozent. Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sprach Stand Juni 2023 von rund 43 Prozent der geflüchteten Ukrainer, die in den Nachbarstaaten der Ukraine und in anderen europäischen Ländern erwerbstätig waren.
Der Druck in Deutschland ist niedrig
Allerdings sind die Erhebungen und Daten, die die Länder dafür zugrunde legen, nicht ganz vergleichbar. Zudem steigt in Deutschland die Zahl der arbeitenden Ukrainer ein Jahr nach deren Ankunft deutlich, was ein Hinweis darauf ist, dass das erste Jahr für Spracherwerb und Integrationsmaßnahmen genutzt wird. Und doch lässt sich herauslesen, dass der Druck, aus finanziellen Gründen schnell einer Arbeit nachzugehen, in Deutschland offenbar weniger hoch ist als in anderen Ländern.
„Wir müssen diese Leistungen im europäischen Vergleich ausgleichen, und zwar müssen wir nach unten ausgleichen“, hatte Landrat Walter gefordert. Der baden-württembergische Landkreistag hatte wie auch andere kommunale Gremien im gesamten Bundesgebiet schon vor dem Rechtskreiswechsel eindringlich vor den Folgen gewarnt. Mittlerweile fordert auch die CDU in Land und Bund eine Rücknahme des Rechtskreiswechsels für Ukrainer mit einer Stichtagsregelung.

Beim Migrationsgipfel zwischen den Ministerpräsidenten der Länder und dem Kanzler war allerdings vor Kurzem überhaupt nicht über den Rechtskreiswechsel, eine eventuelle Rücknahme oder Stichtagsregelung gesprochen worden, hatte Regierungschef Winfried Kretschmann danach bestätigt. Ein heißes Eisen, das niemand in die Hand nehmen wollte. Denn organisatorisch graut es allen Beteiligten in Bund und Ländern ohnehin bei der Vorstellung, auch noch die Ukrainer über die ohnehin völlig überlasteten Asylbehörden abwickeln zu müssen.
Jetzt aber könnte sich das schlagartig ändern. Denn mit dem Haushaltsurteil aus Karlsruhe gelten nun für die Finanzen des Bundes völlig andere Vorzeichen. Gut möglich, dass auch der so folgenreiche – und teure – Rechtskreiswechsel für die Ukrainer in diesem Zuge unerwartet schnell abgeräumt wird.