Das Café Hegel öffnet um sechs Uhr morgens. Für viele der Wartenden ist das eine Erlösung. Auch für Oron Haim. Der Mann aus Israel hat bereits am Montagmorgen um halb vier seine Picknickdecke auf dem Boden am Josef-Hirn-Platz in Stuttgart ausgelegt. Eineinhalb Stunden später kann er sich endlich einen Kaffee und eine Butterbrezel holen. Er weiß nämlich nicht, wie lange er heute noch warten muss. Als er ankommt, sind schon 40 Menschen vor ihm in der Schlage in der Eberhardstraße 39. Manche von ihnen haben mit ihren Kindern die Nacht vor dem schmucklosen Betonklotz verbracht – in der Hoffnung, gleich ins Gebäude zu kommen.

Haim und die anderen warten nicht auf das neue iPhone, sondern darauf, dass die Sicherheitsleute vor der Ausländerbehörde sie reinlassen. Denn reguläre Termine gibt es schon lange nicht mehr. Auch heute steht vor dem Eingang wieder ein Schild: „Heute keine Ausgabe mehr von Wartemarken.“ Der Zufall entscheidet.

Oron Haim wartet seit Mai auf einen Termin

„Das geht bereits seit zwei Jahren so“, sagt Haim. Der 28-Jährige spricht leise. Immer wieder huscht ihm ein Lächeln übers Gesicht, obwohl ihm zum Weinen zumute ist. Er versucht seit Mai, sein Visum und seine Arbeitserlaubnis verlängern zu lassen. Er ist ein in Deutschland ausgebildeter Sozialpädagoge und arbeitet als Projektleiter bei Kubus in Stuttgart und Fellbach, einem gemeinnützigen Verein, der sich gerade für eine offene Einwanderungsgesellschaft und für Menschen mit Fluchtgeschichte einsetzt, die Arbeit suchen.

Am Beispiel von Haim lässt sich die Tragik und Vielschichtigkeit des Problems in Stuttgart aufzeigen. In der Schlange stehen genau die Fachkräfte, die die Stadt und das Land so dringend suchen. Aber sie können nicht arbeiten, weil der Fachkräftemangel in der Stuttgarter Behörde sie aufhält.

Jeden Tag bilden sich lange Schlangen vor der Ausländerbehörde in Stuttgart.
Jeden Tag bilden sich lange Schlangen vor der Ausländerbehörde in Stuttgart. | Bild: Matthias Schmid

Und nicht erst seit zwei Jahren, sondern seit zehn, wie der Linken-Stadtrat Luigi Pantisano bestätigt. Schon so lange würden seine und die anderen Fraktionen vergeblich parlamentarische Anträge stellen, um das Personal in der Ausländerbehörde zu erhöhen und die Digitalisierung zu verbessern. Geschehen sei nichts. Vor allem CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper rede das Thema klein.

Haim sei kein Einzelfall, sagt Pantisano. Er selbst habe mit Menschen gesprochen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Seit drei Monaten sei es so schlimm, dass die Leute begonnen haben, vor der Behörde zu schlafen. Pantisano ist der erste Stadtrat, der zu den Menschen ging und ihnen Kaffee und Tee ausgeschenkt hat. Seit ein paar Tagen macht er öffentlich massiv auf die Probleme aufmerksam. Im Willkommenszentrum herrsche eine Ablehnungskultur, sagt er. „Sie zeigen den Menschen, dass sie sie eigentlich gar nicht wollen oder erst nach einer Tortur.“

Oron Haim lebt gerne in Stuttgart, nachdem er vor sieben Jahren zum Bundesfreiwilligendienst aus Rechovot gekommen ist, einem Ort 20 Kilometer südlich von Tel Aviv. „Stuttgart ist meine Heimat geworden, hier sehe ich auch meine Zukunft“, bekennt er. Aber die Zustände in der Ausländerbehörde seien zum Verzweifeln. E-Mails bleiben seit Monaten unbeantwortet, mit dem Telefon kommt man gar nicht durch. Und online? Haim fragt irritiert: „In welchem Land leben Sie?“

Die frühere Amtsleiterin berichtete im Mai, dass es 33.000 unbeantwortete E-Mails gebe. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor, sagt ein Stadtsprecher. Aber er räumt ein, dass ein Drittel der 170 vorgesehenen Stellen unbesetzt sei. Das soll sich bis zum Jahresende ändern. Zehn Sachbearbeiterinnen sollen eingestellt werden. Außerdem kündigt OB Nopper an, dass vorübergehend 16 Mitarbeiter aus anderen Abteilungen aushelfen sollen.

Seit nachts vor Ort: Menschen warten schon Stunden vor der Öffnung vor dem Eingang der Behörde in Stuttgart.
Seit nachts vor Ort: Menschen warten schon Stunden vor der Öffnung vor dem Eingang der Behörde in Stuttgart. | Bild: Bernd Weißbrod/dpa

Stadtrat Pantisano hat sich neulich mit dem zuständigen Ordnungsbürgermeister Clemens Maier über Sofortmaßnahmen unterhalten. Sie kamen überein, dass Lotsen eine wichtige Rolle spielen könnten, um die Schlange zu verkürzen. „Ein Drittel der Menschen“, glaubt Pantisano, müssten nicht warten. Sogenannte Fiktionsbescheinigungen, also eine Art vorläufige Aufenthaltserlaubnis für Menschen aus Nicht-EU-Ländern, könnten auch online ausgefüllt werden. Als eine der wenigen Angelegenheiten.

Haim muss sich einreihen, digital kann ihm niemand helfen. Er würde gerne weiterarbeiten, aber ohne gültige Papiere, die Ende August abgelaufen sind, sei es nicht möglich, die Angst seines Arbeitgebers vor Kontrollen durch den Zoll sei zu groß. Dass er und die anderen schon seit Monaten auf die Bearbeitung warten, findet er grotesk. „Ich schäme mich für meine Stadt“, sagt er. „Das ist nicht nur ausländer-, sondern vor allem menschenfeindlich.“

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Langsam begreift auch der OB, dass das Image der Stadt, in der die Hälfte der Bürger einen Migrationshintergrund hat, darunter stark leidet. Vergangenen Freitag besuchte er die Ausländerbehörde, sprach mit den Mitarbeitern und den Wartenden – aber nicht in der Schlange, sondern er stand drinnen in der Tür und redete nach draußen. Er verspricht schnelle Besserung und verweist auf die neuen Mitarbeiter: „Die Verwaltung zeigt, dass sie ihrer Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern gerecht wird.“ Pantisano kann über so wenig Empathie nur den Kopf schütteln. „Diese Distanz zwischen dem OB und den Ausländern sagt alles.“

Unterstützung hat auch die Landesregierung in Aussicht gestellt. Der Leiter der Staatskanzlei, Florian Steegmann, schrieb im Frühjahr einen Brief an Nopper, verbunden mit einer Einladung. Doch der reagiert eher ausweichend. Das Land plant, verschiedene Ausländerbehörden an einen Tisch zu bringen, damit sie voneinander lernen.