Dass ein katholischer Bischof oder Würdenträger zurücktritt, ist mittlerweile nicht ungewöhnlich. Der radikale Schnitt von Andreas Sturm fällt da schon eher aus der Reihe: Sturm war Generalvikar in der Diözese Speyer und damit der wichtigste Mann nach dem Bischof. Der 47-Jährige gab Mitte Mai ohne Vorwarnung bekannt, dass er sein Amt als Verwaltungschef der in Speyer niederlegen und die katholische Kirche verlassen werde. Er sehe kaum mehr Hoffnung in der katholischen Kirche. Dem Paket der Reformen und Reförmchen, das von Maria 2.0 bis zum Synodalen Prozess reicht, gibt er keine Chance auf Verwirklichung.

Prominente Verstärkung für die Region

Sturms Entscheidung geschah aus eigenem Antrieb, ohne Zwang von außen und ohne Anzeichen für eine Verfehlung im Amt. Im Gegenteil. Der Generalvikar war beliebt, er galt als einer, der Dinge vorantreibt und Seelsorge nicht als Schreibtisch-Job ansieht.

Und das auch noch: Er wechselt zu einer unscheinbaren Gemeinschaft, die bundesweit knapp 16.000 Mitglieder zählt, auch wenn ihr Name Größe und Tradition verspricht: Sturm geht zu den Alt-Katholiken, und diese freuen sich auf die prominente Verstärkung. Sturm wird ab 1. August in Singen sowie Sauldorf (Kreis Sigmaringen) als Pfarrer eingesetzt; derzeit durchläuft der ehemalige Top-Mann aus Speyer noch ein Praktikum in München.

In Südbaden stark vertreten

Dass die Alt-Katholiken in diesem Jahr 150 Jahre alt werden, erscheint im Licht dieser Personalie wie ein Wink der Geschichte. Sturms Wechsel wirft ein Licht auf eine bedeutende Glaubensgemeinschaft, die in Südbaden und in der Nordschweiz bist heute stark verbreitet ist. Sie feiert ihr Jubiläum in den Kirchen und Gemeindehäusern in der Region – in der Konstanzer Christuskirche ebenso wie auf dem Randen.

Die Kirche der Alt-Katholiken in Kommingen.
Die Kirche der Alt-Katholiken in Kommingen. | Bild: Claudia Hesse

In Dörfern wie Kommingen, Fützen (Schwarzwald-Baar-Kreis) oder kleinen Städten wie Blumberg sowie Stühlingen (Kreis Waldshut) wuchsen nach 1872 plötzlich neue Gemeinden mit dem merkwürdigen Namen heran. Bauern, Bürger, Arbeiter verließen damals in Scharen die katholische Kirche, die seit Jahrhunderten die religiöse Landschaft zwischen Schwarzwald und Bodensee beherrscht hatte. Die Alt-Katholiken, so empfanden es damals viele, waren die besseren Katholiken.

Gottesdienste in Sichtweite zum Münster

Wie steht es heute um diese Gruppe, die sich provozierend von der alten römischen Kirche, von Papst und Kardinälen, abgesetzt hat? Die Frage lässt sich leicht beantworten, wenn man alt-katholische Priester trifft. Deshalb treffen wir uns in der geräumigen Sakristei der Christuskirche – dort feiern die Konstanzer Mitglieder seit gut 100 Jahren ihre Gottesdienste – in Sichtweite zum ehrwürdigen Münster. Diese Sakristei ist ein tiefkatholischer Raum mit soliden Schränken, die noch in die Zeit der Jesuiten zurückreichen. Nur die Kaffeemaschine erinnert daran, dass hier nach dem Gottesdienst am Sonntag auch Kaffee ausgeschenkt wird.

Früher waren diese Männer katholisch

Drei Männer, drei Lebenswege – und ein Roter Faden. Jozef Köllner, Hermann Eugen Heckel und Franz Segbers waren einst Katholiken, bevor sie zu den Alt-Katholiken konvertierten. Die ersten beiden Männer sind Priester. Gründe für den Wechsel: Ihre Kritik an der Papstkirche, an der überhöhten Autorität des Heiligen Stuhls, am Abwürgen der Befreiungstheologie.

Wie es zur Gründung kam

Der andere Grund: der Zölibat. Zwei der Männer lernten eine Frau kennen, mit der sie heute auch verheiratet sind. Bei den Alt-Katholiken ist das kein Problem, weil sie keinen Zölibat kennen. „Ich habe das nie als Wechsel empfunden, sondern als Dranbleiben“, sagt Segbers, der bis zur Pensionierung als evangelischer Professor wirkte und 2020 für die Linkspartei für den Bundestag kandidierte. Als Katholik hätte er mit beidem Probleme bekommen.

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Anders gesagt: Die Alt-Katholiken dürfen all das tun und lassen, was eifrige Reformer schon lange fordern. Ihre Seelsorger dürfen heiraten. Sie werden gewählt und nicht von oben ernannt. Die Gemeinde entscheidet mit. Frauen können Priesterin werden. Homosexuelle werden getraut mit Ring und Segen.

Der Schmerz über das gestohlene Bistum

Die damals neue Kirche verbreitete sich vor allem im Süden Deutschlands. Der frühere Dekan Heckel erklärt es mit der aufgeladenen Stimmung im damaligen Großherzogtum Baden: „Die Stimmung war aufgewühlt. Die Auflösung des Bistums Konstanz 1821 haben viele Katholiken damals nicht akzeptiert.“ Die Gründung eines neuen Bundes ohne Papst wurde als Befreiung verstanden. Zudem war das 19. Jahrhundert bereits von demokratischen Ideen durchdrungen. „Die Zurücksetzung dieser Rechte störte viele Bürger“, sagt Franz Segbers.

Die christliche Ausgründung traf offenbar den Zeitgeist im Dreieck von Baar, Rheingrenze und Bodensee. In Konstanz bekannten sich wenige Jahre später 60 Prozent der Bürger zur alt-katholischen Kirche. Die Enttäuschung über das „gestohlene“ Bistum saß noch immer tief. Dessen Abwanderung ins ferne Freiburg empfand die Stadt als Kränkung an. Sie versank dadurch in der Provinz.

Eigentlich müssten die Gottesdienste ausgebucht sein

Hermann Eugen Heckel nennt noch ein Stichwort, das den Erfolg dieser Sezessionsbewegung erklärt: den wackeren Ignaz Heinrich von Wessenberg, letzter Generalvikar des Bistums Konstanz und zugleich erklärter Gegner der päpstlichen Ansprüche. Wessenberg war liberal und den Römern suspekt. Er hatte ein ausgefeiltes Programm einer deutschen Nationalkirche entworfen, die im Groben die spätere alt-katholische Kirche vorwegnimmt. Der Boden war also bereitet für eine Kirche, die sich von unten aufbaut. 1872 kam sie.

Imposanter Bau: Die Kirche der Alt-Katholiken in Konstanz. Vor 150 entstand diese kleine Gemeinschaft in Südbaden.
Imposanter Bau: Die Kirche der Alt-Katholiken in Konstanz. Vor 150 entstand diese kleine Gemeinschaft in Südbaden. | Bild: Fricker, Ulrich

Wenn man den drei Theologen (darunter zwei Pfarrern) zuhört, entsteht das Bild einer idealen Kommunität. Die Machtfrage ist demokratisch gelöst, Frauen sind gleichberechtigt, die Frohe Botschaft herrscht. Demnach müssten die eigenen Gotteshäuser voll sein und Anbauten nötig sein. Dem ist aber nicht so, wie Jozef Köllner, berichtet. Als Pfarrer der Christuskirche rechnet er vor: 266 Mitglieder zählt seine Gemeinde, davon besuchen etwa 15 den sonntäglichen Gottesdienst in dem prächtigen barocken Bau. Wie kann das sein, wo diese Gemeinschaft doch alle reformerischen Anliegen schnell erfüllt?

Das Dreigestirn in der Sakristei kennt diese Frage. Es gibt darauf tapfere Antworten, aus denen gleichwohl auch leichte Enttäuschung herauszuhören ist. „Wer austritt, der schließt sich nicht mehr unbedingt einer neuen Kirche an“, stellt etwa Jozef Köllner fest. Viele Leute wollten sich nicht mehr binden, hört er aus Gesprächen heraus. Religion hat für viele Zeitgenossen heute mehr Projektcharakter. Fromm auf Zeit – ja. Bindung – nein.

Am Anfang stand eine Frau

Und auf dem Land? Stefan Hesse leitet die Gemeinde in Kommingen, einem Dorf mit 270 Seelen und Ortsteil von Blumberg. Auch Hesse zelebrierte früher die Messe als katholischer Priester, bevor er wechselte. „Der Anlass? Das war die Begegnung mit meiner Frau“, sagt der bedächtige Mann am Telefon.

Stefan Hesse, alt-katholischer Pfarrer in Kommingen (Blumberg)
Stefan Hesse, alt-katholischer Pfarrer in Kommingen (Blumberg) | Bild: Claudia Hesse

Heute wohnt er mit ihr im Pfarrhaus von Kommingen. Er hütet eine relativ große Gemeinde: 270 Christgläubige sind bei ihm eingetragen; davon hören im Schnitt 35 seiner Predigt zu. Hesse überlegt sich, wie es weitergeht. Über schrumpfende Zahlen macht er sich keine Sorgen, ebenso wenig wie seine Kollegen in Konstanz. „Die Größe ist kein Kriterium“, sagt er, denn klein waren sie fast immer.