Schreiben kann quälend sein. Es kann aber auch heilen und helfen, weil sich ein Mensch beim Schreiben erinnert und damit etwas aufbewahrt. Diese tröstende und rettende Funktion von Schrift hatte die Klinikseelsorge am Singener Krankenhaus im Sinne, als sie sich Gedanken darüber machte, wie man an diesem eigenen Ort sinnvoll der Verstorben erinnern kann.
Das Ergebnis ist nicht etwa düster, wie man es für den oft düsteren November annehmen könnte. Waltraud Reichle (katholische Kirche) und Christoph Labuhn (evangelische Landeskirche) stellen in diesem elften Monat eine hohe Stele aus Plexiglas auf. Dort können Hinterbliebene oder Freunde den Namen eines Menschen aufschreiben, der im Krankenhaus gestorben ist.
Der November hat eine besondere Prägung
Die Singener Künstlerin Elisabeth Paul fertigte die schwerelos wirkende Platte vor zwei Jahren an. Sie begleitet den November, um im Dezember dem Weihnachtsschmuck und der Krippe zu weichen. Die Stele dient als saisonales Memento Mori – als Erinnerung an jene Menschen, „die uns vorausgegangen sind,“ wie Waltraud Reichle sagt.
Bevor das Kirchenjahr am 1. Advent neu beginnt, wird davor nochmals zurückgeblättert und ein Namen notiert. Keiner soll vergessen werden. „Volkstrauertag und Totensonntag prägen diese Zeit“, sagt Christoph Labuhn, und man darf ergänzen: Mit Allerheiligen und Allerseelen wird der Monat bereits mit dem Blick auf das Ende der Zeiten eingeläutet.

Wenn ratlose Kinder fragen
Die beiden Seelsorger werden von ratlosen Kindern oder verwitweten Eheleuten oft gefragt: „Wo sind unsere Verstorbenen?“ Viele stellen die Sinnfrage, berichtet Labuhn. Auch Menschen, die nicht kirchlich gebunden sehen, werden in Singen und anderen Krankenhäusern zwangsläufig auf diese Frage gestoßen, die auch die beiden Theologen nicht beantworten können. Aber sie können zuhören und haben in der Stele einen Ort geschaffen, der die Frage mindestens als Platzhalter auffängt.
So lange ihre Namen geschrieben und gelesen werden, sind die Verstorbenen nicht wirklich weg. Das handtuchbreite Objekt erinnert an die Sterblichkeit, gleichzeitig aber auch daran, dass aus christlicher Sicht etwas am Menschen überdauert.

Der Standort für das modern luftige Epitaph ist geschickt gewählt. Es steht in der Kapelle des Spitals, die vor einigen Jahren erst renoviert wurde. Heller ist sie geworden, übersichtlicher, maximal reduziert mit einem massivhölzernen Altar. Die bald 100 Jahre alten Glasfenster von August Babberger (er galt nach 1933 als „entartet“) kommen umso besser zur Geltung. An der Wand der Kapelle lehnt die Stele wie ein offenes Buch.
Wir müssen neue Rituale entwickeln, sagt die Seelsorgerin
Auch wenn alle die meisten Patienten das große Haus wieder lebend verlassen wollen, ist es doch auch ein Haus des Sterbens. Etwa 800 Menschen tun im Singener Spital ihren letzten Atemzug. Was Krankenpfleger und Fachärztinnen professionell bewältigen, wird für die Angehörigen zur Herausforderung. „Es gibt Ehepaare, die sind seit 50 oder 60 Jahren verheiratet gewesen“, berichtet Reichle aus ihrem Alltag. Deshalb sei die Gestaltung von Trauer umso wichtiger. „Trauern hilft“, sagt sie und ist überzeugt, dass die Schriftsäule in der Kapelle erst der Anfang sei. „Wir müssen hilfreiche Rituale neu entwickeln.“ Der Anfang ist gemacht, und sie rechnet damit, dass sich die Glasplatte schnell mit neuen Namen füllen wird.
Wie nahe Leben und Tod beisammen liegen, zeigt die Lage der Kapelle. Deren Tür steht immer und aus Prinzip offen – sie soll offener, einladender Ort sein. Geht man zwölf Schritte geradeaus, dann steht man direkt vor dem Portal der Onkologie, die ebenfalls im 4. Stockwerk liegt. Auch hier bündelt sich Hoffnung, doch nicht jeder Patient übersteht seine Krebserkrankung.